023/250: Tania León

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250 Komponistinnen. Folge 23: Bequemlichkeiten unkommod.

Text · Titielbild Michael Provost (CC BY-SA 3.0) · Datum 25.3.2020

Am 14. Mai 1943 bombardierte die deutsche Wehrmacht Rotterdam aus der Luft. Fast 1.000 Menschen starben bei diesem Angriff – und rund 80.000 verloren ihr Obdach. Einen Tag später folgte die Kapitulation der Niederlande. An genau diesem Tag erblickte Tania León im fernen Havanna das Licht der Welt – und wurde später zu einer der ganz wenigen Avantgarde-Komponistinnen Kubas überhaupt. Dort, auf Kuba, hatte von 1940 bis 1944 der gewählte Militärangehörige Fulgencio Batista regiert, der von 1952 bis 1958 noch einmal als diktatorischer Staatspräsident Kubas ins Spiel kam. Kuba hatte in der ersten Regierungsphase Batistas diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion unterhalten und war der Anti-Hitler-Union beigetreten.

Tania León – aus einer Familie mit französischen, spanischen, afrikanischen und kubanischen Wurzeln stammend – zeigte bereits früh Interesse an praktischer Musikausübung und erhielt ab ihrem vierten Lebensjahr Klavierunterricht. Nach Studien an zwei Konservatorien ihres Heimatlandes verließ sie Kuba und schrieb sich 1967 an der New York University ein. Mit dem bekannten Tänzer Arthur Mitchell (1934–2018) gründete sie anlässlich des Schocks über die Ermordung von Martin Luther King 1969 das »Dance Theatre of Harlem«, das erste Tanzensemble mit ausschließlich schwarzen Tänzer*innen. Für die Kompagnie wirkte León fast zehn Jahre als Musikdirektorin. Bis 1978 entstanden demgemäß abendfüllende Ballettmusiken, die – als Tanztheaterinnovationen umgesetzt – von Mitchell und Kolleg*innen uraufgeführt wurden. Immer wieder dirigierte León ihre eigenen Werke und erarbeitete sich in dieser Tätigkeit einen internationalen Ruf, der zu Dirigier-Engagements bei renommierten Klangkörpern wie dem Gewandhausorchester Leipzig oder dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom führte.

Doch Léon bleibt der Stadt ihrer wichtigsten Studienzeit – New York – bis heute treu. Seit Mitte der 1980er Jahre unterrichtete sie dort am Brooklyn College und wurde als Musikpädagogin immer wieder ins europäische Ausland eingeladen. Von 1993 und 1997 arbeitete sie an der Seite von Musikchef Kurt Masur als Beraterin für zeitgenössische Musik beim New York Philharmonic Orchestra.

2006 wurde die vielfältig beschäftigte Tania León zum »Distinguished Professor« an der City University of New York ernannt. 2010 gründete sie an Ort und Stelle ein Festival für zeitgenössische Musik und wurde im selben Jahr als Mitglied in die American Academy of Arts and Letters und 2018 schließlich in die American Academy of Arts and Sciences berufen.

Tania León (* 1943)Batá für Orchester (1985/88)

Zu den während ihrer prägenden Jahre am »Dance Theatre of Harlem« geschaffenen Ballettmusikkompositionen kommen Werke für ganz unterschiedliche Besetzungen – Solo und Kammermusik – hinzu; auch dramatische Werke für die Bühne – so ihre Oper Scourge of Hyacinths (1994/99) – und solche für den Konzertsaal finden sich in Leóns Werkkatalog.

Der Titel ihres 1985 und 1988 entstandenen Orchesterwerks Batá bezieht sich auf die Batá-Trommel: eine Erfindung des Yoruba-Volks, das vor allem im Südwesten Nigerias sowie in den Nachbarländern Benin, Ghana und Togo angesiedelt ist. Das Instrument ist auf beiden Seiten mit Fell bespannt, wobei die eine Seite im Durchmesser weitaus kleiner ist als die andere. Dadurch entsteht eine Form, die an die einer etwas unförmigen Sanduhr erinnert, weswegen die Batá-Trommel auch zur Gruppe der »Sanduhrtrommeln« oder »Stundenglastrommeln« gezählt wird.

Tania León rekurriert mit der Titelgebung auf ein Instrument, das auch in ihrer karibischen Heimat beliebt ist. Ganz im »avantgardistischen Gewand« jedoch hebt das Werk an. Eine einsame Piccoloflöte zwitschert sanft-zischig klagend über der Landschaft, die sogleich als gemaltes Bild schief gehängt wird: leicht angeschrägt grundiert von tiefen Orchesterstimmen mündet dieser erste kurze instrumentale Orientierungsblock in einem fast ohne Vorwarnung hereinschnellenden Perkussionsschlag.

Die Zäsur nutzt León äußert originell. Nicht wird etwa schlichtweg der nächste Schockmoment – im Sinne des irgendwann gelassen hingenommenen lauen »Schockmoments« der für Jahrzehnte gleich klingenden Avantgarde Mitteleuropas – inszeniert. Dafür kommt das Orchesterklavier zusammen mit dem Englisch Horn ins Spiel – und macht ein bisschen auf Free Jazz, derweil der Perkussionsbesen alle Zweifel des virtuellen Auditoriums, hier könne gerade ein langweiliges Werk eingeleitet werden, hinwegfegt.

»Hier werden Stimmungen jäh gespiegelt, Bequemlichkeiten stracks unkommod, Motivorientierungsmöglichkeiten zersplittert, Instrumentenaffirmationspotentiale durch Wegfall in der Partitur negiert.« Tania Leóns ›Batá‹ in @vanmusik.

Wieder kippt die Stimmung um. Ein spotzendes Hornsignal trötet das Orchester-Aquarium an – und in interessantesten, schnell wechselnden Kaleidoskop-Effekten reagieren die anderen Instrumente, öffnen die Farbschränke des unendlichen Klangmeeres auf lustigste Weise. Nicht also geht es – und es gibt solche Kompositionen zuhauf! – um die perkussive, rhythmisch neckige Vereinbarung ästhetischer Ideen der späteren Avantgarde-Komponistin mit ihren aus dem Exil erinnerten Herkunftsklängen. Der an die Batá-Trommel gemahnende Titel scheint nur symbolhaft über der Komposition zu stehen – im Sinne von: »Jedes Ding hat zwei Seiten!« Hier werden Stimmungen jäh gespiegelt, Bequemlichkeiten stracks unkommod, Motivorientierungsmöglichkeiten zersplittert, Instrumentenaffirmationspotentiale durch Wegfall in der Partitur negiert. Ein sehr originelles Orchesterwerk. ¶