Leben für die Probe

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Die unsichtbare, aber essentielle Arbeit der Korrepetierenden.

Text · Illustrationen · Datum 22.1.2020

Hinter jeder Opernproduktion steckt eine Heerschar fleißiger Arbeiter*innen: La Traviata beispielsweise wäre nicht möglich ohne Waffenschmied und Kampftrainerin, Lichttechniker*innen, die Violettas letzte Atemzüge in einen schaurigen Schimmer tauchen, Perückenmacher und Kostümbildnerinnen, die die Pariser Halbwelt zum Funkeln bringen. Auch, wenn ihr Tun vielleicht nicht immer die Anerkennung findet, die ihnen gebührt: Wir sehen ihren Beitrag auf der Bühne. Im Gegensatz zur Arbeit der Korrepetitor*innen, die hinter verschlossenen Türen alles, was ihnen das Saisonprogramm vorschreibt, immer und immer wieder spielen – und deren Arbeit für das Publikum völlig unsichtbar bleibt.

Im Programmheft tauchen sie, wenn überhaupt, unter »Musikalische Einstudierung« auf. Trotzdem gibt es wenige, die derart tief in die Oper eintauchen und ihre Umsetzung beeinflussen wie sie. »Du spielst jede einzelne Note der Oper«, erklärt mir Korrepetitorin Alice Turner. »Du spielst das ganze verdammte Ding, wie außer dir nur die Dirigentin oder der Dirigent.« Damit nicht genug: Sie können auch fast jedes Wort singen. Ein Korrepetitor erzählt mir, dass er alle Rollen aus La Traviata auswendig kann. Bei Probespielen wird von Korrepetitor*innen erwartet, dass sie nicht nur die teuflische Begleitung vom Ende des zweiten Aktes in Mozarts Figaro beherrschen, sondern auch gesanglich alle Stimmen des riesigen Ensembles. Die meisten verfügen außerdem über beeindruckende Kenntnisse in einer Vielzahl von Fremdsprachen.

Und sie sorgen dafür, dass Intonation und Text sitzen, tragen, strahlen. Sie hören »mit den Ohren von Stimmcoaches«, wie mir der Dirigent John Andrews erklärt, auf Atmen, Stütze, Linie. Sie können auf Details hinweisen, die in Proben in größeren Gruppen nie Beachtung finden würden; sie übernehmen das, wofür die Dirigent*innen keine Kapazitäten haben. Laut Andrew »lauschen sie genauso viel wie sie spielen«, sie registrieren alles, was im Probenprozess passiert – und behalten es.  

Sobald die Orchesterproben auf der Bühne beginnen, werden Korrepetitor*innen zum Troubleshooter, finden die Fehler, verfeinern die musikalische Darbietung im Zusammenhang mit dem Schauspiel. Oft sind sie eine überlebenswichtige Verbindung zwischen Dirigent*in und Regisseur*in – eine Position, die nicht immer angenehm ist: Nick Fletcher, der Chef-Korrepetitor der Royal Danish Opera und frühere Jette Parker Young Artist an der Royal Opera in London, erzählt mir zum Beispiel von einem erbitterten Streit darüber, wie genau Papageno in der Zauberflöte auf der Bühne die Töne des Glockenspiels anschlagen soll. Außerdem, meint Andrews, müssen die Korrepetitor*innen zwischen den vielen unterschiedlichen Talenten im Raum vermitteln, Übersetzungsarbeit leisten zwischen dem, was die Partitur verlangt und dem, was Tänzer*innen, Choreograph*innen und Schauspieler*innen ausdrücken.

Trotzdem bleibt diese Arbeit so gut wie unsichtbar. Elspeth Wilkes berichtet mir von der Arbeit mit unzähligen Londoner Opern-Ensembles, von Generalbass-Begleitungen, wie wir sie zum Beispiel bei Händel und Mozart finden, meist auf dem Hammerklavier oder Cembalo. Das ist gleichzeitig ein gutes Bild für die Rolle der Korrepetitor*innen: Unter der Oberfläche bleiben, präsent, aber nicht aufdringlich. (Tatsächlich haben Kritiker*innen in London sich kürzlich über ein ihrer Meinung nach zu präsentes Hammerklavier in Così fan Tutte beschwert.) »Es ist eine Gratwanderung«, sagt Wilkes und erinnert sich laut an eine Aufführung, in der ein Sänger einfach vier Partiturseiten ausließ und sie sehen musste, wie sie unauffällig zum von ihm angestimmten Part springen konnte.

Paul Webster, ein Korrepetitor, der beim Glyndebourne Festival und an der Opera National de Paris gearbeitet hat, erzählt mir, dass er sich selbst nicht als Pianist versteht. Es überrascht, das von jemandem zu hören, der im Rahmen seiner Profession Tausende von Stunden an Tasteninstrumenten verbringt, der eine überwältigende Disziplin an den Tag legen muss, um in den Mammut-Probensessions mit ihren unzähligen Wiederholungen weiterhin auf hohem Niveau zu spielen. Er sagt, er sieht sich als »Musiker mit dem Klavier als Werkzeug seiner Wahl.«

Paul Webster passt damit genau in mein Bild von Korrepetitor*innen: nüchtern, effizient, die eigenen beeindruckenden musikalischen Talente herunterspielend (was John Andrews »ziemlich ärgerlich« findet »für uns alle, die wirklich schlecht Klavier spielen.«) Alle, die schon mal einen Blick in den Klavierauszug der Schlussszene der Walküre geworfen haben, wissen, dass dieses Dickicht aus Noten der oder dem Ausführenden einiges abverlangt. Um überhaupt an ein größeres Haus zu kommen, muss man während des Korrepetitions-Probespiels auch bei den virtuosen Werken für Klavier solo abliefern (obwohl das täglich Brot von Korrepetitor*innen dann oft reichhaltiger ist als das von Solist*innen, die täglich stundenlang Tonleitern rauf und runter spielen müssen).

Korrepetitor*innen gehen auch anders an den Klang des Klaviers oder Flügels heran. »Das Wichtigste ist, dass du orchestral spielst«, erzählt Nick Fletcher. Es geht darum, »mit dem Klavier die Klänge zu produzieren, die die Sängerinnen und Sänger später auch vom Orchester hören.« Der größte Stolperstein sei die Natur des Klaviers selbst. »Es ist ein perkussives Instrument. Pianist*innen tendieren dazu, unglaublich vertikal zu spielen, Orchester spielen sehr horizontal.« Elspeth Wilkes erklärt mir, dass es eine andere Finger- und Handhaltung benötigt, um diese Orchesterklänge heraufzubeschwören. Korrepetitor*innen erfinden so immer wieder neue Sounds am Klavier, sie musizieren, forschen, improvisieren und experimentieren gleichzeitig.

Dazu muss man erstmal mit dem musikalischen Material umgehen können, dem Klavierauszug der Opernpartitur. Wilkes beschreibt manche von ihnen als »schrecklich« und »unspielbar«. Sie sind unvollkommene Kreaturen, manchmal fehlen Details, die entscheidend sind, damit die Sänger*innen richtig einsetzen, manchmal kommt die Textur, Farbe oder Stimmung des Originals überhaupt nicht rüber. Es kann ein Fehler sein, alles, was dort steht, spielen zu wollen, sagt Paul Webster. Ein Fehler, den vor allem die machen, die eigentlich als Konzertpianist*innen ausgebildet sind.  

Korrepetitor*innen verstehen die Klavierauszüge als etwas Offenes, das neu gedacht oder komponiert werden kann. Sie sind, so Webster, »Vorlagen, um uns das Spielen der Oper leichter zu machen, und kein festgeschriebener Text wie eine Chopin-Mazurka.« Man kann Oktaven hinzufügen, um die Dichte eines Streicherapparats zu imitieren; Anschläge können schärfer gespielt werden, damit das Klavier mehr nach Blasinstrumenten klingt; wichtige Linien und Phrasen, die im Klavierauszug fehlen, müssen wieder hinzugefügt werden. Manchmal führt das, wie Nick Fletcher erklärt, dazu, dass man ganze Passagen neu schreiben muss. Alice Turner fasst das so zusammen: »Man verbringt viel Zeit am Küchentisch, mit einem Bleistift und Tipp-ex, falls man gerade in der Stimmung für radikale Streichungen ist.«

Musikalisches Material immer wieder zu überarbeiten und neu zusammenzustellen, knüpft an die Tradition der Improvisation an, die immer ein Teil der klassischen Musikkultur war, auch wenn sie durch Professionalisierung und Standardisierung heute etwas ins Abseits geraten ist. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Komponierenden und Ausführenden. Die Werke verändern sich ständig im Prozess der Proben und Aufführungen. Die Art und Weise, wie Korrepetitor*innen den Partituren begegnen, hat etwas erfreulich Unstrukturiertes und Unnachgiebiges an sich: eine Erinnerung an den ungeschönten, widerborstigen, handfesten Kern des Musizierens, der ansonsten geglättet wird durch das Spektakel der Aufführung und unsere Erwartungen an das Gebaren klassischer Künstler*innen.

All dies verlangt detaillierte Vorbereitung. Die meisten Korrepetitor*innen arbeiten ihre Klavierauszüge durch, indem sie alles mit der Orchesterpartitur abgleichen, um sich dann eine eigene Version für die Proben zusammenzustellen. Ein Regisseur erzählt mir, dass ein Bekannter von ihm schon jetzt damit angefangen habe, den Klavierauszug für Wagners Tristan und Isolde vorzubereiten. Korrepetieren wird er dieses Werk erst 2021. Auch Fletcher bereitet das Werk gerade vor. »Ich denke mal, ich schaffe 15 Seiten Klavierauszug in einer Stunde«, schreibt er mir per Mail. Die Ausgabe von Schott hat 320 Seiten – das heißt: Allein die Noten einzurichten braucht mehr als  21 Stunden.

Aber das ist nur ein Bruchteil der Aufgaben. »An den meisten Häusern ist das Üben nicht Teil der Arbeitswoche«, schreibt er. »Man muss vor oder nach den Proben üben oder am Wochenende … Deine Karriere hängt davon ab, wie schnell du Stücke erarbeiten und dann coachen und spielen kannst.« Die Belastung ist enorm. Turner erzählt von der körperlichen Herausforderung, direkt hintereinander zwei Durchgänge von Brittens A Midsummer Night’s Dream zu korrepetieren. Man stelle sich nur vor, sich danach direkt an ein neues Werk zu setzen und eine Übesession zu starten …

Ich habe mit einem international bekannten Solisten gesprochen, der vor dem Start seiner Karriere als Korrepetitor gearbeitet hat und der anonym bleiben möchte, um frei sprechen zu können. Eine für den Job entscheidende Kompetenz hat er nach eigener Aussage unterschätzt: »Die Fähigkeit, mit Arschlöchern umgehen zu können.« Seit seiner frühen Jugend war er von der Oper besessen und verschlang alle Partituren und Libretti, die ihm in die Finger kamen. Korrepetitor schien da der perfekte Job zu sein. Seine Liebe zur Oper hatte aber, wie er es ausdrückte, »wenig mit dem eigentlich Business selbst zu tun.« Die Ernüchterung folgte prompt. Den Sänger*innen, mit denen er in den USA arbeitete, schien es nur um die Stimme zu gehen. »Das Libretto oder die Handlung interessierten sie überhaupt nicht.« Schon bald bekam er das Gefühl, dass diese Kunstform ihn intellektuell gar nicht befriedigen konnte. Die Arbeit fühlte sich für ihn menschenfeindlich an, weil die Sänger*innen »nur nett waren, wenn sie dich brauchten.« Er habe sich »wie ein sehr kleines Zahnrad im Getriebe der Macht« gefühlt. Das besiegelte das Ende seiner Liebe zur Oper, für viele Jahre.

Aus Paul Websters Erzählungen klingt dagegen die Hochachtung gegenüber seiner Arbeit und seinen Kolleg*innen, aber auch er erlebt Herausforderungen im Alltag an der Oper. Am liebsten probt er mit Sänger*innen in kleinen Überäumen, wo er sie in Ruhe coachen konnte. Im Probenstudio, wo Sänger*innen, Regisseur*in und Dirigent*in unter einen Hut gebracht werden müssen, sieht das dann schon ganz anders aus. Dort werden, so erklärt er, »die Persönlichkeiten viel größer, theatralischer … Ich fand es immer etwas schwierig, damit umzugehen.«

Auch für den heutigen Solisten war seine Phase als Korrepetitor keine Zeitverschwendung. »Dieses miese Korrepetieren war sehr wertvoll für mich«, sagt er, auch wenn es ihn schon in seinen Zwanzigern erbarmungslos lehrte, »abgestumpft zu sein wie alte Kolleg*innen«. Er lernte zu »gottlosen Uhrzeiten« zu arbeiten – eine Fähigkeit, die für die meisten Musiker*innen unerlässlich ist – und eine große Menge an Repertoire beherrschen und abrufen zu können. Das Zusammenspiel von Text und Musik in der Oper hat im Endeffekt geprägt, was Musik für ihn im Kern ausmacht. »Ich stelle mir einen Text vor, wenn ich Instrumentalmusik spiele. Der, der ich heute bin, bin ich nur durch’s Korrepetieren geworden.«

Korrepetitor*innen verfügen meist über ein Wesen, das ansonsten rar ist im Klassikbetrieb. Sie proben viel mehr, als dass sie Musik aufführen. Und auch wenn sie sich manchmal im Orchestergraben wiederfinden, sind sie nie die Hauptfiguren des Produktionsprozesses, die am Ende der Vorführung mit auf die Bühne gebeten werden.

Die Korrepetitor*innen, mit denen ich spreche, wirken alle selbstlos, großzügig. Die allermeiste Zeit lieben ihre Arbeit ohne Einschränkungen und niemand von ihnen äußert den Wunsch, auszubrechen und selbst zum großen Maestro zu werden, obwohl viele Dirigent*innen diesen Weg gegangen sind: Antonio Pappano und Christian Thielemann beispielsweise starteten ihre Karrieren als Korrepetitoren für Daniel Barenboim bei seinem legendären Bayreuther Ring.

Die von mir interviewten Musiker*innen wirken zurückhaltend, sogar in sich gekehrt. Vielleicht liegt das daran, dass sie in einer aufgeladenen Atmosphäre eine Zen-ähnliche Disziplin an den Tag legen müssen. Das Verhalten von Sänger*innen ist von Natur aus eher dramatisch und laut, dagegen stehen dann noch die Ideen der Regie und die Vorstellungen der musikalischen Leitung. Korrepetitor*innen müssen in dieser turbulenten Welt die Ruhepole bilden.  

Bescheidene Alleskönner*innen: @vanmusik macht Korrepetitor*innen sichtbar.

Ich frage Alice Turner, ob dieses ständige Unsichtbar-Sein nicht frustrierend ist. Ihre Kolleg*innen wundern sich auch, sagt sie, wie sie ihre Rolle so genießen kann, wo sie sich doch nie vor dem Publikum verbeugen darf. Aber im Orchestergraben mitzumusizieren ist der Part, der ihr an ihrer Arbeit am wenigsten gefällt. Die Musik spielt in den Proben, in den intensiven Auseinandersetzungen mit musikalischen und textlichen Details. Sie ist immer begierig auf neue Werke, das Coaching beim gemeinsamen Eintauchen. Turner vergleicht das mit der Rolle einer Beamtin. »Du bist nicht Premierministerin, aber was soll’s?«, sagt sie. »Solange du die Partitur und die Worte, die du vor dir liegen hast, mehr liebst als dein eigenes Bedürfnis, das Stück zu interpretieren oder dich ausdrücken.«