Basel basisdemokratisch

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Die Basel Sinfonietta im Porträt

Text · Datum 27.2.2019

Seit 1980 spielt die Basel Sinfonietta zeitgenössische Musik, erprobt Konzertformate – und verwaltet sich selbst. In den letzten Jahren passte sich das Ideal eines basisdemokratischen Orchesters den Gegebenheiten der Zeit an. So wird das Orchesterporträt zum Mosaik aus künstlerischen Überzeugungen, Kulturpolitik, Marketingstrategien und persönlichen Geschichten.

Dies ist der zweite Teil unserer Serie »Zukunftsmusik« über Visionen, Innovationen und die Frage: Die Idee ist gut – ist die Welt schon bereit? In der ersten Folge widmeten wir uns der neuen Generation junger Klassiklabels. Die Serie entsteht im Rahmen unserer Development-Partnerschaft mit der Bank Julius Bär.

1. Musikdiskurs, online

Basel, Mitte Februar: Eifrig werden Fasnachtsplaketten verkauft, die Sonne scheint schon frühlingshaft warm. Um das Tagungszentrum Oekolampad blühen erste Schneeglöckchen. Hier findet in dieser Woche die zweite Ausgabe der hochdotierten Basel Composition Competition statt. Für die drei Sieger-Kompositionen werden Preisgelder von insgesamt 100.000 Franken vergeben. Eine hochkarätige Jury um Michael Jarell (acht Mitglieder; weiss, männlich) sitzt an langen Tischen und lauscht den Uraufführungen.

Was das mit der Basel Sinfonietta zu tun hat? Sie ist neben dem Kammerorchester Basel und dem Sinfonieorchester Basel einer der Klangkörper, die die Kompositionen aufführen. Dass die drei führenden Basler Orchester diesen Wettbewerb gemeinsam zum Klingen bringen, ist das Verdienst von Christoph Müller, dem künstlerischen Delegierten und Konzertmanager des Kammerorchesters Basel.

»Komm doch nach dem Konzert mit uns zum Abendessen, das passt ohnehin besser zu uns als normale Interviews«, sagt Felix Heri wenige Tage zuvor am Telefon. Er ist seit drei Jahren Geschäftsführer der Basel Sinfonietta. Bei besagtem Abendessen sorgt der Kompositionswettbewerb für Gesprächsstoff. Oder, genauer: Ein Interview in der Aargauer Zeitung, welches Müller im Vorfeld gegeben hat. Denn gewisse Passagen erwecken den Eindruck, als bestünde in Basel ein Neue-Musik-Vakuum, welches seit dem Ableben des übergrossen Paul Sacher nicht gefüllt wird:

Aargauer Zeitung: Es gibt kritische Stimmen, die der Neuen Musik vorwerfen, dass sie sich um die Hörgewohnheiten des Publikums foutiert, und eben darum kein Publikum hat. 

Christoph Müller: Vielleicht stimmt das. Andererseits ist es ja gerade der Inbegriff von Kunst, dass sie sich nicht nach dem Publikumsgeschmack richtet, sondern dass sie das zum Ausdruck bringt, was die Menschen und die Gesellschaft zurzeit bewegt. Aber natürlich ist es so, dass es die zeitgenössische Musik schwer hat, gerade in einem kommerziellen Umfeld, wo Gelder durch Ticketverkäufe generiert werden müssen. Es bleibt eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten, ihr den gebührenden Platz in den Konzerthäusern zu gewähren.

Als Gegenmittel nennt Müller ein Schulklassenprojekt mit Gymnasiasten im Rahmen des Kompositionswettbewerbs. Solche Aussagen echauffieren Baldur Brönnimann. Er ist seit der Saison 2016/2017 der erste Principal Conductor in der fast 40-jährigen Geschichte der Basel Sinfonietta. »Unsere Abo-Konzerte beweisen das Gegenteil: Wir sind ausverkauft, bespielen aussergewöhnliche Orte – und die Leute kommen! Sie fahren in die Agglomeration und in Fabrikhallen, um zeitgenössische Musik zu hören.« Neue Musik muss eben nicht zwingend eine sperrige, unzugängliche Nische sein. So veröffentlichte die Sinfonietta auf ihrer Facebook-Seite postwendend einen Kommentar:

Mit Brönnimann hat die Basel Sinfonietta ein Gesicht bekommen. Er setzt sich mit Nachdruck für zeitgenössische Musik in den Konzertsälen rund um die Welt ein und scheut auch den pointierten Diskurs nicht (so auch in seinem VAN-Text »Erwachen aus dem künstlichen Koma«).

Baldur Brönnimann dirigiert im Juni 2018 die Basel Sinfonietta im Alten Kraftwerk Basel • Foto © Benno Hunziker
Baldur Brönnimann dirigiert im Juni 2018 die Basel Sinfonietta im Alten Kraftwerk Basel • Foto © Benno Hunziker

2. Organisation, basisdemokratisch

Die Basel Sinfonietta wurde 1980 als konsequent basisdemokratisches Orchester gegründet. Die rund 90 Musikerinnen und Musiker sind alle Vereinsmitglieder, ihnen gehört das Orchester. Inhaltlicher Schwerpunkt war schon immer die zeitgenössische Musik, Uraufführungen und Auftragswerke begleiten die Geschichte. Sämtliche Entscheidungen wurden an Vollversammlungen gefällt, alle Stimmen hatten das gleiche Gewicht. Seit einigen Jahren wird die Demokratie sozusagen modernisiert: Die Geschäftsstelle wurde neu aufgestellt, die Orchestermitglieder stellen eine Programm- und eine Besetzungskommission.

Dass diese – um beim politischen Jargon zu bleiben – Reformen gerade um das Jahr 2015 herum einsetzten, ist kein Zufall. Das Profil des Projektorchesters musste geschärft werden, weil der Kanton Basel-Stadt ein neues Konzept für die Orchesterförderpolitik einführte: Philippe Bischof, von 2011 bis 2017 Leiter der Abteilung Kultur im Kanton, erarbeitete die »Programmförderung Orchester«. In diesem System spricht der Regierungsrat lediglich das Gesamtbudget der Orchestersubventionen. Die Aufteilung der Förderbeiträge übernimmt eine internationale Fachjury aufgrund der eingereichten Programme. Nur das Basler Sinfonieorchester erhält weiterhin fixe Subventionen, weil es das einzige Berufsorchester im Kanton ist. Alle anderen Klangkörper, einschliesslich der Basel Sinfonietta, müssen sich dem Subventionswettbewerb stellen.

Geschäftsführer Heri sieht das System als Vorteil für die Sinfonietta: »Wir haben das Privileg, vom Kanton einen Leistungsauftrag anzunehmen. Dieser besteht darin, jährlich sechs Konzerte für grosses Orchester mit zeitgenössischer Musik zu veranstalten.« Dafür erhält die Sinfonietta vom Kanton Basel-Stadt rund 700.000 Franken. Bei einem Gesamtjahresbudget von 1.7 Millionen Franken ist das eine für die Schweiz einmalige Situation.

3. Programme, innovativ

Diese sechs Programme, von denen Brönnimann jeweils vier selber leitet, bilden die künstlerische Kernkompetenz der Basel Sinfonietta. »Überzeugung« und »Legitimation« sind denn auch Begriffe, die beim Abendessen häufig fallen. Die Konzerte finden an überraschenden Orten statt, die Locations werden auf die Musik abgestimmt. Die Abonnementskonzerte der Sinfonietta sind massgeschneiderte Events, das musikalische Erlebnis ein gut durchdachtes Gesamtpaket. So etwa das Programm »Agglo rockt«, welches diesen Januar in der Konzertfabrik Z7 in Pratteln gespielt wurde. Pratteln, das ist eine Industriegemeinde im Südosten der Stadt Basel, insbesondere bekannt als Standort bekannter Einrichtungshäuser. Die Konzertfabrik Z7 ist der »grösste Rocktempel der Agglomeration Basel«, so Werner Hoppe, der für PR und Marketing der Sinfonietta zuständig ist.

Letzten Herbst experimentierte die Sinfonietta ausserdem mit der Konzert-App »Onstage«, die es dem Publikum ermöglicht, sich via Smartphone auf verschiedene Kamerapositionen im Orchester zu schalten, die Partituren mit zu verfolgen, digitale Programmhefttexte zu lesen – und Moderatoren können das Geschehen auf der Bühne in einer Art Live-Ticker in Echtzeit kommentieren. Die konventionelle Konzerterfahrung wird erweitert, das Konzerterlebnis interaktiv gestaltet. Solche Innovationen verlangen bisweilen etwas Überzeugungsarbeit bei den Orchestermitgliedern. Heri erinnert sich: »Die Vorstellung, dass beim Spielen vier Kameras auf einen gerichtet sind, war für einige zunächst befremdlich.« Doch nach zwei Pilotversuchen mit der App wollten alle die neue Technologie beibehalten.

Diese Beispiele zeigen, dass sich der Umgang mit digitalen Medien und neuen Technologien zunehmend zu einem Markenzeichen der Basel Sinfonietta entwickelt – sowohl inhaltlich als auch formal. Neben den gängigen sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram bewirtschaftet das Orchester seit knapp zwei Jahren auch seinen eigenen Videokanal »Sinfonietta TV«. Dort werden Vorschauen, Teaser und Rückblicke publiziert, Interviews und Back-Stage-Berichte.

Der Look: bunt bis grell, ein bisschen retro, aber durchaus zeitgeistig und cool. Auch Hashtags wie #MusikAmPulsDerZeit oder #DeineOhrenWerdenStaunen gehören dazu. Zwar bezeichnete die Basler Zeitung die breit angelegten Marketing-Massnahmen bei ihrer Lancierung als »ein bisschen bemüht«. Jedoch erstaunt diese Kritik, gehören doch Überlegungen zur Corporate Identity, zu Auftritt und Öffentlichkeitswirkung selbst im Klassikbetrieb inzwischen zu den Kernaufgaben der Marketingabteilungen. Man erwartet es vielleicht bloss nicht so sehr von Exponenten der zeitgenössischen Musik. Denn man muss fairerweise auch konstatieren: Mit einer Gesamtzahl von rund 5.000 Abonnenten auf allen Social-Media-Kanälen und zwischen einem und 277 Aufrufen der Sinfonietta-TV-Videos auf Youtube geht das Konzept noch nicht viral. Vielleicht dauert es noch einige Zeit, bis die Klassikwelt ebenso selbstverständlich mit digitaler Vermarktung umgeht, wie es in anderen Musiksparten schon längst der Fall ist.

Passt in jede Brieftasche: Das Saisonprogramm der Basel Sinfonietta im Visitenkartenformat

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4. Basel, geografisch

Ausserdem bezieht sich die räumliche Verortung der Basel Sinfonietta – zumindest was die sechs Eigenproduktionen betrifft – stark auf die Stadt Basel und ihre Umgebung. Das hat zum einen mit dem Leistungsvertrag des Subventionsgebers zu tun. Zum anderen mit dem Projektorchester-Charakter: Die Mitglieder sind nicht festangestellt, sie spielen in anderen Ensembles und unterrichten. Das gilt auch für die aktuelle Vorstandspräsidentin, die Geigerin Franziska Németi-Mosimann: »Ich habe auch Barockgeige studiert und spiele neben der Sinfonietta hauptsächlich Barockmusik.« Ausserdem unterrichtet sie an einer Musikschule – und hat einen Bachelor in Mathematik. Wie kam es dazu, dass sie der Basel Sinfonietta als Präsidentin vorstehen wollte? »Ich habe mich schon vor meiner Vorstandszeit sehr mit der Sinfonietta identifiziert. Da konnte ich irgendwann nicht mehr nur zuschauen, ohne zu versuchen, mitzuziehen und mitzugestalten.« Der Vorstand besteht aktuell aus vier Orchestermitgliedern, Entscheidungen werden im Gesamtvorstand gefällt. »Nur in Ausnahmesituationen – wenn’s schnell gehen muss – entscheide ich einmal etwas alleine«, so Németi-Mosimann. Sie beschreibt sich als eher introvertierte Person, die Annahme des Amts als Präsidentin war für sie ein Sprung ins kalte Wasser: »Ich lerne laufend dazu und kompensiere den Rest mit Kämpfertum. Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die jemandem weh tun; das ist dann vom menschlichen Standpunkt aus sehr hart. Manchmal kann man aber auch einfach geniessen und stolz darauf sein, was wir alle zusammen auf die Beine stellen.«

Damit spricht sie eine Entwicklung an, die auch die Basel Sinfonietta in den letzten Jahren durchmachen musste: den vielbeschworenen Generationenwechsel. Das geschärfte Profil und die organisatorischen Richtungswechsel führten dazu, dass einige Mitglieder das Orchester verließen. Ein Teil des Idealismus wurde von Überlegungen zur Legitimation und Rentabilität abgelöst – musste abgelöst werden.

Denn lange Zeit spielte die Sinfonietta zu verhältnismässig kleinen Gagen. Durch den Subventionsvertrag entstand daraus ein Dilemma, zu dem Geschäftsführer Heri im März einen politischen Vorstoss plant: »Wir setzen uns dafür ein, dass der kantonale Auftrag zu fairen und angemessenen Bedingungen und Gagen ausgeführt werden kann.« Und allmählich tragen die grossen Anstrengungen der Reorganisation und Profilierung Früchte: In den kommenden Saisons hat die Sinfonietta Einladungen zu den Festivals »Warschauer Herbst«, »Acht Brücken« in Köln und zu weiteren Neue-Musik-Hotspots.

Eingespieltes Dreierteam: Geschäftsführer Felix Heri, Präsidentin Franziska Németi-Mosimann, Chefdirigent Baldur Brönnimann
Eingespieltes Dreierteam: Geschäftsführer Felix Heri, Präsidentin Franziska Németi-Mosimann, Chefdirigent Baldur Brönnimann

5. Engagements, notwendig

Das freut natürlich sowohl das Orchester als auch die Organisation. Denn trotz der kreativen und wohldurchdachten Eigenproduktionen muss die Sinfonietta eine Million ihres Budgets von 1.7 Millionen selbst decken. Deswegen spielt sie auch Engagements. Und das ist ein Balanceakt – der Auftritt an der Basel Composition Competition trifft dessen Kern. Denn einerseits proklamiert die Sinfonietta ein scharfes Profil und künstlerische Klarheit. Andererseits ist sie ein Projektorchester mit Mitgliedern, die so oft und viel wie möglich spielen wollen. Deshalb steht hie und da auch mal ein Klavierkonzert von Mozart oder etwas Stravinsky auf dem Programm. »Früher haben die Engagements gewissermassen die Eigenproduktionen querfinanziert. Heute gehen wir durch die Schärfung unseres Profils mit den Engagements selektiver vor – sonst untergraben wir unsere eigene Legitimation«, sagt Heri. Ein Fixum im Jahreszyklus ist eine Kooperation mit dem Theater Basel. So spielte die Sinfonietta in der letzten Saison die Dreigroschenoper in einer Inszenierung des Filmregisseurs Dani Levy. Mit Erfolg: Deutschlandfunk Kultur attestierte der «grossartigen» Sinfonietta einen »durchsichtigen, analytischen Sound«, laut der Neuen Zürcher Zeitung spielte sie »ganz formidabel auf«.

Basisdemokratie, Social Media, Idealismus und Querfinanzierung: Die Basel Sinfonietta in @vanmusik.

Das sind, gemessen an der Grösse des Betriebsbüros, doch recht viele Aktivitäten. Zum Vergleich: Das Ensemble Moderne, ebenfalls selbstverwaltend, ebenfalls 1980 gegründet, beschäftigt 15 Mitarbeitende allein für das Ensemble. Bei der Basel Sinfonietta sind es, inklusive des Chefdirigenten, sieben. »In den Wochen, in denen ich in Basel bin und arbeite, sind Felix und ich rund um die Uhr zusammen«, erzählt Brönnimann lachend. Der gebürtige Basler lebt inzwischen in Madrid und leitet auch das Orquestra Sinfonica do Porto Casa da Música. Unlängst wurde sein Vertrag mit der Basel Sinfonietta bis 2022 verlängert. Die neuen Konstellationen funktionieren. Und die kommenden Saisons werden zeigen, inwiefern sich die modernisierte Demokratie am Puls der Zeit festigen kann.