Kein stilles Örtchen, nirgends

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Ein Blick in die Sanitärbereiche der Klassik

Text und Fotos · Datum 12.4.2017

Die Toilettenfrage ist in Wien nicht gelöst, sagte Reger, schrieb Thomas Bernhard. Denken wir uns Wien als Metapher der Klassik schlechthin und stellen fest: Die Toilettenfrage ist in der Klassik nicht gelöst.

Kein stilles Örtchen, nirgends.

Denn Hören ist mehr als Zuhören, es braucht Resonanz und Räsonieren. Auf dem Klo kann ein ganzes Konzert, ein ganzer Opernbesuch den Bach runtergehen. Wenn etwa nach einem Liederabend ein ruchloser Rentner am Pissoir (Vespasienne nennen die Franzosen es schöner, nach Kaiser Vespasian) die Melodie des Lindenbaums nachpfeift. Wenn frau gerade so zum Beginn von Bruckners Achter in den Saal gehechelt kommt, weil die Schlange vor der Toilette wieder mal zu lang war. Oder wenn man bei der Gralsenthüllung nicht des Geruchs ledig wird, den man vor Beginn des Parsifal auf Berlins schlimmster Operntoilette aus tiefsten Schlünden wahrnahm, von dort, wo die Höllenrosen blühen.

Jede Toilette hat ihren eigenen Charakter, ihr eigenes Timbre. Große Säle, intime Kammern, Fabrikruinenflair, gibt es alles. Wenden wir uns also erst einmal dem Äußerlichen zu: drei unverwechselbaren Toiletten, die man als paradigmatische Hygiene-Orte des Berliner Konzertlebens definieren könnte. Die schlimmste, die knickrigste, die neueste.

Das investigative Fotomaterial entstand unter schwierigen, teils gefährlichen Bedingungen. Auf die Beigabe olfaktorischer Belege verzichte ich bewusst.

Scheuchende Schrecken: Deutsche Oper

Egal welche Toilette der Bedürftige hier betritt: Misswende folgt ihm, wohin er fliehet, Misswende naht ihm, wo er sich neigt. Der erste Besuch auf einer Toilette der Deutschen Oper ist ein ähnlich einschneidendes Erlebnis wie der erste Ring – das Leben scheidet sich in ein Davor und Danach.

Schon die Operntoilette zu betreten ist nicht leichter als die Waberlohe zu durchschreiten, es gelingt nur dem furchtlos freiesten Helden. Aber keinem moppligen Heldentenor! Schlank muss der Bedürftige hier sein oder sich machen, denn zwei Menschen, die sich in entgegengesetzten Richtungen bewegen, kommen kaum aneinander vorbei. Wer es dennoch in eine der außergewöhnlich engen Kabinen (besser: Kapseln) schafft, muss so weit als möglich hineingehen und die Beine über der Kloschüssel spreizen, um die Tür schließen zu können.

Eine eigenartige Kapsel ist das, in welcher der Bedürftige sich dann findet. Die Toiletten der Deutschen Oper zeichnen sich durch eine dumpfe, in den Höhen hingegen schrille Akustik aus. Ein fauliger, schneidender Geruch gemahnt, man muss es sagen, an Seuchen-Opern wie Benjamin Brittens Tod in Venedig. Der Bedürftige ertappt sich beim eitlen Versuch, durchzuatmen ohne zu inhalieren. Behaglich ist das nicht. Aber wer schließlich die Muße findet (etwa in der Pause einer wenig besuchten Repertoire-Vorstellung), Herz und Seele schweifen zu lassen, dem wird der karge Raum zur unendlichen Weite. Er wird gewahr, dass den Toiletten der Deutschen Oper eine mythische Qualität eignet, die in Berlin wohl einzigartig ist.

Auf der Bühne wird in diesen Tagen Götz Friedrichs berühmte Ring-Inszenierung zum letzten Mal gespielt, danach der legendäre Zeittunnel entsorgt. Aber auf der Toilette der Deutschen Oper existiert der Zeittunnel weiter. Der Eingekapselte begreift: Diese Toilette ist der Zeittunnel. Würde auch er abgeräumt, die Operntoilette grundsaniert und aufgeschickt, so wäre die Deutsche Oper in ihrem Innersten verwundet.

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1 Handtuch genügt: Philharmonie

Die Fülle des Wohllauts, den die Berliner Philharmoniker verströmen, findet keinen Widerhall am Seifenspender, auf den philharmonischen Toiletten ist Schmalhans Hygienemeister. Mehrmals muss der Bedürftige in seinen Handteller schauen, bevor er glauben kann, dass wirklich ein Tröpflein Seife ihn benetzt hat. Hat er dann die Hände gewaschen, ermahnt ihn ein Aufkleber unter dem Kleenex-Spender: 1 Handtuch genügt.

Darf denn der Philharmoniker-Abonnent nicht so großzügig nehmen, wie er gibt? Niemals klagte er ja über den schnöden Obolus, den er viele Jahre beim Toilettengang zu entrichten hatte. Von Herzen gönnte er das Geld den sympathischen Toilettenmännern, den reizenden Toilettenfrauen. Nur hungerleidende Partiturmitleser trotteten gen Südfoyer, wo die kleinen, schon immer kostenlosen Nebentoiletten liegen – oder gar in die hochalpinen Regionen von Block D zu der versteckten Geheimtoilette, die man während des Konzerts nicht benutzen darf, weil man ihr Rauschen im Saal hört.

Tempi passati. Als im Sommer 2016 der Saalservice an einen neuen Anbieter vergeben wurde, verschwanden auch die vertrauten Münzentische. Seither darf auch der Sparefroh vom Podiumsplatz guten Gewissens die beiden großen Toilettensäle im Parterre und ersten Stock benutzen. Kein scheeler Blick wird ihn treffen, wenn er ohne zu geben an dem Stuhl in der Ecke vorbeigeht, auf den die altgedienten Abonnenten (kein Service-Optimierer wird ihnen die Großzügigkeit austreiben) nun von sich aus Münzen für die Toilettenleute legen.

Akustisch sind nur diese beiden großen Toilettensäle der Philharmonie würdig: warm ausbalancierte Mischklänge aus rauschendem Wasser, sprudelnden Gesprächen, knarzenden Lüften, saftigem Schnäuzen, irisierendem Schlurfen. So findet die Fülle des philharmonischen Wohllauts hier doch Widerhall.

Und wer weiß – vielleicht werden ja dereinst die Schleusen der Seifenspender sich öffnen, die Handtuchspender auch zur Entnahme von zwei oder, warum denn nicht, drei Papieren ermuntern. Wird der altgediente Abonnent sich dann von Wellness-Optimierern die Sparsamkeit verbieten lassen? Eher wäscht er sich die Hände in seifenlos klarem Wasser; und ermahnt sich im Stillen selbst: 1 Handtuch genügt.

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Stilles Örtchen für das denkende Bedürfnis: Pierre-Boulez-Saal

Dass auch die Toiletten in die Luft gesprengt werden müssen, ist in Pierre Boulez‘ berühmt-berüchtigter Forderung nach Sprengung der Opernhäuser stillschweigend mitpostuliert. Im Berliner Pierre-Boulez-Saal, der auf Initiative von Daniel Barenboim erbaut wurde, begegnet mir nicht nur ein neuer Typus von strikt funktionalem, dabei elegantem Konzertsaal, wie er Boulez gewiss gefallen hätte (auch wenn der typische Berliner Nörgler die Nase rümpft über angebliches Plenarsaalflair mit BVG-Sesseln). Auch die Toiletten zeichnen sich durch strikte Funktionalität und niemals auftrumpfende Eleganz aus. Der Leitsatz des Boulezsaals, Musik für das denkende Ohr, verwirklicht sich in einer Art entwickelnder Variation im Sanitärbereich als einem stillen Örtchen für das denkende Bedürfnis.

Die strukturelle Strenge von Yasuhisa Toyatas Saalklang, der dem Hörer als wohlsortiertes Bild einzelner akustischer Ereignisse begegnet, definiert auch das Toiletten-Erlebnis. Dieses basiert auf klar determinierten Farb- und Form-Valeurs: Schwarz, Weiß, Silber sowie Linie, rechter Winkel, Kreis, Oval sind das kompositorische Ausgangsmaterial. Dass dennoch kein hemmender Eindruck entsteht (was ja gerade im Toilettenbereich fatal wäre), verdankt sich dem von vornherein mitgedachten Eintreten des Unvorhergesehenen: überraschende Farbwerte etwa durch freiliegende Kabelstränge oder individuell, teils geschmacklos gekleidete Benutzer der Sanitäranlagen.

Zudem erwachsen aus der für Berliner Verhältnisse stupenden Sparsamkeit und Pünktlichkeit, mit der der Pierre-Boulez-Saal realisiert wurde, mannigfaltige Proliferationen, die das Fluidum des Spontanen verströmen. So löst sich das Material hier und da bereits in seine Grundelemente auf: Klapprige Klinken etwa sind auch akustisch ein Mehrwert innerhalb des konstruktivistischen Sanitärbereichs. Auch ließ es sich auf der Toilette im Obergeschoss anscheinend ein Benutzer nicht nehmen, die leichtgefügte Trennwand zur Damentoilette mit einem Guckloch anzubohren. Diese Untat soll nicht verharmlost werden, dennoch ist grundsätzlich zu konstatieren, dass die Eigengesetzlichkeit des laufenden Betriebs den Toilettenbereich behaglicher, ja menschlicher macht; denn es ist ein Paradox des Lebens, dass nichts das Neue so vitalisiert wie sein Verfall.

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Epilog

Doch was suchen wir wirklich auf dem stillen Örtchen, im Verborgenen? Wollen wir tatsächlich nicht mehr, als einem dringenden Bedürfnis nachzukommen, einem notwendigen Übel, einer üblen Notwendigkeit?

Für manche Konzertbesucher mag das zutreffen und dagegen ist nichts einzuwenden. Doch das Potenzial der Konzertsaaltoilette, des Opern-WCs ist ungleich größer. Das Klo kann ein Refugium sein, die raumgewordene Möglichkeit, im natürlichen Bedürfnis einer existenziellen Bedrängnis des Hörenden zu entrinnen: dem Gerede. Der Phrasenmäherei im Foyer, die das Erlebnis der Musik zu zerstören droht, wie es auch die exaltierte Bravo-Ruferei tut, das Meet-and-Greet mit entfernten Bekannten auf der Treppe, die nichtigen Flüche in den Warteschlangen an Bar oder Garderobe.

Stille.

Nichts anderes ist das sachliche Fließen der unvermeidlichen Geräusche auf der Toilette: Stille. Eine Stille, die der Resonanz, dem Räsonieren und Reflektieren Raum gibt. Hier darf die gehörte Musik nachklingen, hallen, im Gemüt umherfliegen, sich tief in unsere Seele senken. Nicht im Saal, sondern auf dem Klo sind wir allein mit der Musik.

Und eben deshalb ist es so schlimm, wenn ausgerechnet in diesem Fluchtraum, dieser geschützten Stille, dieser Hörkapsel ein arger Mensch an der Vespasienne den Lindenbaum oder das Guten Abend, gute Nacht-Seitenthema aus Brahms‘ Zweiter nachpfeift. Es ist, als bohre der Teufel selbst durch die leichtgefügte Trennwand ein Loch in die eigene, ungeschützte Seele.

Wenn aber das Örtchen sein darf, was es seinem Wesen nach sein will: still – so kommen wir dort dem Unendlichen, Unmittelbaren, Unaussprechlichen der Musik näher als irgend sonst. ¶