»Jede Musik ist gut, wenn sie gut vertanzt wird.«

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Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg b.29 "Konzert für Orchester" ch.: Martin Schläpfer

Ein Probenbesuch beim Choreografen Martin Schläpfer im Düsseldorfer Balletthaus.

Text · Fotos Gert Weigelt · Datum 5.4.2017

Auf ultrahohen Lackstiefeln tänzelt das Ensemble durch den Probenraum. Das Schuhwerk poltert rhythmisch zu Marla Glens rauchig-tiefem Sprechgesang und der Blues-Mundharmonika. Vor der riesigen Spiegelwand sitzt Martin Schläpfer mit schwarzer Sporthose, sein weißes Hemd aufgeknöpft. Ab und zu mischt er sich unter die Tänzer*innen, demonstriert einzelne Bewegungsabläufe, und wenn es dann gefällt, platzt ein begeistertes »That’s excellent!« oder »Beautiful!« aus ihm heraus. Es herrscht eine konzentrierte, aber lockere Stimmung. Geprobt wird Schläpfers Stück Obelisco, uraufgeführt 2007 in Mainz und seit dem 1. April in der Deutschen Oper am Rhein zu sehen.

Franz Schuberts Du bist die Ruh ist traumschön. Zu Gundula Janowitz’ Stimme, die aus den Boxen säuselt, schwelgt ein einsamer Tänzer. Obelisco hat Schläpfer aus sieben verschiedenen Mosaikteilchen kreiert: Neben Glens Travel (erstes Stück) und Schubert (drittes), choreografiert er Musik von Salvatore Sciarrino, Scarlatti, Mozart und Giacinto Scelsi. Mit Richard Heubergers Geh’n wir ins Chambre séparée schließt das Stück.

Für Schläpfer, Schweizer Tänzer und Choreograf, beginnt alles mit der Musik. Seit 1995 sind Unmengen von Vertanzungen Klassischer Musik entstanden, einige auch für die Deutsche Oper am Rhein, mit ihren Spielstätten in Duisburg und Düsseldorf. Seit 2009 ist er dort Ballettdirektor. Schläpfer gräbt sich quer durch das Kernrepertoire, aber auch Werke von Helmut Lachenmann und Sofia Gubaidulina hat er schon choreografiert.

Auf seinem Bürotisch stapeln sich CDs und Papier, ein paar seltsam anmutende Requisiten sind im Raum verstreut. Schläpfer ist ein bedächtiger Mensch, während langer Denkpausen breitet sich Stille im Raum aus. Und wenn er antwortet, mit dem charakteristischen Schweizer »R«, rutscht ab und zu ein englischer Satz dazwischen.

VAN: In welche Richtung hat sich Obelisco zehn Jahre nach der Uraufführung am Staatstheater Mainz entwickelt, was hat sich verändert?

Martin Schläpfer: Früher gab’s Marla Glen noch nicht, an der Stelle stand Ghostyhead von Rickie Lee Jones. Mir war das jetzt zu versponnen, zu poetisch und verloren. Die Stücke sind für mich Bücher, die ganz nah beieinander liegen. Glen und Heuberger sind wie zwei Buchstützen, die alles zusammenhalten. Beide Stücke sind Verkunstungen, Intepretationen, deshalb auch dieses extravagante Schuhwerk. Nicht weil die Plateauschuhe heiß, geil oder ein bisschen Grace Jones sind, sondern weil es mit Elisabeth Schwarzkopf zu tun hat, die den Heuberger singt: Ihr Gesang ist ja auch eine Übernatur.

Choreografisch übernommen habe ich mehr oder weniger Scelsi, Sciarrino und Schubert und ganz neu habe ich den Scarlatti und den Mozart gemacht.

Und warum das Umchoreografieren?

Mir war der Scarlatti viel zu wenig virtuos. Damals in Mainz (wo Schläpfer von 1999 bis 2009 das Ballett leitete [Anmerkung d. Red.]) dachte ich, er sei sehr virtuos und fand ihn jetzt beim Anschauen völlig flach. Und bei Mozart war ich immer so berührt und fand’s jetzt relativ naja … Jetzt hat es mit mir zu tun, ich weiß nicht einmal, ob es besser ist, aber mir passt’s besser (lacht).

Obelisco
Obelisco

Inwieweit hat das mehr mit Ihnen zu tun?

Ich bin älter, erfahrener und als Künstler und Choreograf woanders. Dinge entstehen für einen anderen Typ Compagnie, für eine andere Stadt. Vielleicht fehlte mir der Widerspruch, die Spannkraft darunter. Mainz war behüteter, harmonischer, kleiner, wir waren zwar erfolgreich, aber es war trotzdem naiv.

Wie verhalten sich die Stücke zueinander, wie ergänzen oder kontrastieren sie sich?

Ein homogenes Bild haben die nie ergeben, aber es ist schon Musik mit einer Patina, es ist nachtig, auch der Scarlatti ist nicht fröhlich, sondern poetisch. Und Glen ist schlussendlich in aller Wut ›Melo‹. Auch die Kostüme haben sich verändert: Sie kommen zwar aus einem ähnlichen System, es sind bedruckte Spitzen, doppelschichtig, aber jeder Bereich hat einen anderen Look. Bei Marla Glen tragen die Tänzer ganz lange Kleider. Insofern würde ich sagen die Blöcke stehen eher gegeneinander als zueinander gekehrt. Wenn ich die Stücke zusammen baue, darf ich sie nicht einzeln betrachten. The big challenge is to still make a piece, sonst ist es einfach nur eine Aneinanderreihung. Ich glaube, dass die ganze Musikauswahl in sich selber eine Sehnsucht hat, einen romantischen Untergrund.

Franz Schubert, Du bist die Ruh’ D 776; Gundula Janowitz

Im Schubert gibt es schon Text und Ton. Jetzt kommt mit dem Tanz noch eine dritte Ebene dazu. Wie kommen Sie von Schubert zu einem Ausdruck durch Tanz?

Du bist die Ruh’ beginnt ganz fein, der Text beschreibt für mich den Tod. Jetzt kann man sich eine Richtung aussuchen, zu der man sich hinsehnt oder einen Ort weit weg, der sich in der Körperrichtung ausdrückt (streckt seinen Arm weit nach vorne aus). Da arbeite ich dann schon konkret mit dem Text. Gleichzeitig muss ich aufpassen, dass ich einen Text nicht eins zu eins in Tanz übersetze. Das ginge glaube ich heute nicht mehr.

Schubert ist ein Romantiker und Romantik heißt: ganz tief innen sehnt man sich nach jemand anderem und einer besseren Welt. Da ist es wichtig, dass Bewegungen sich ausdehnen und nicht Barock, als nicht in einer Rundung choreografiert sind, sondern in einer Länge. Und so kann ich nah am Text sein, ohne ihn exakt umzusetzen. Dieses Spiel: Wo wird man straff mental und geht auf den Text ein und wo lässt man ihn sein und vertanzt nicht nur einfach die Struktur oder das Metrum oder die Melodie, sondern auch die Atmosphäre. Das gehört ja auch zur Romantik, aber auch das Suizidale, das sich Aufbäumen, dieses leicht Larmoyante.

Warum reizen Sie genau die Stücke, die eben keine Tanzmusik sind?

Musik und Tanz sind Geschwister. Und es gibt genug Choreografen, die sich Tanzmusiken widmen. Ich glaube, dass ich mich nicht von Tanzmusik wegbewege oder sie ignoriere. Jede Musik ist gut, wenn sie gut vertanzt wird.

Kann also jede Musik vertanzt werden?

Fast. Man könnte ja auch sagen, ’ne Kunst der Fuge darf man nicht anfassen. Zwar war die bis 1920 vergessen und wurde zu Bachs Zeiten als Hausmusik gespielt, doch man hat es dann plötzlich zu heiligen begonnen. Durch meine Recherche kann ich aber sagen: Es ist legitim dieses Werk zu vertanzen. Obwohl es schon bestimmte Stücke gibt, die sind auch mir zu sakrosankt, das Mozart-Requiem zum Beispiel. Aber grundsätzlich tut es der Musik und auch dem Zuschauer gut, wenn gute Choreografien sie neu erlebbar machen.

Die Stücke werden aus ihrer ›sterilen‹ Konzertsituation geholt?

Ja. Sie bekommen eine andere Erlebensebene für jemanden, der offen ist. Natürlich muss man Respekt haben vor Musik und wissen, dass das Stück zuerst da war. Auf der anderen Seite darf man nicht scheu mit ihr umgehen, weil der Tanz 90 Prozent der Noten und Strukturen weglassen muss. Sonst haben wir Neoklassizismus, bei dem wir versuchen, die ganze Partitur auf die Bühne zu setzen. Das machen wir ja heute nicht mehr.

Der Tanz braucht immer eine gewisse Körperlichkeit und Sinnlichkeit — die kann auch ganz still, aber muss extrem sein — damit das Publikum in diese andere Welt mitgenommen wird. Ich will nicht nur ein Nischenpublikum erreichen.

Johannes Brahms, Sinfonie No. 2 mit einer Choreografie von Martin Schläpfer

Choreografieren Sie deswegen vor allem populäre Stücke?

Ich arbeite mit zwei großen Orchestern, den Duisburger Philharmonikern und den Düsseldorfer Symphonikern. Die brauchen Stücke, an denen sie wachsen können. Und die Alternative zu großen klassischen Handlungsballetten ist oft die Sinfonie. Dabei muss die Tanzkunst den Musikern auf Augenhöhe begegnen. Wir dürfen nicht immer nur unsere eigene Suppe kochen, im Spezialistentum, sondern müssen uns verbinden mit den anderen Künsten. Im Sinne von: sie mitdenken, nicht unbedingt ›integrieren‹. Das ist dann einfach auch ein Berg, der schon da steht: Entweder erklimmt man einen, der parallel ist, nicht den gleichen, vielleicht einen fünf Kilometer weiter weg und kommt auf die gleiche Höhe in einer anderen Form oder man stürzt eben ab und bleibt unten.

Obelisco wird aber nicht live vom Orchester gespielt, sondern vom Tonband. Wie haben Sie die Aufnahmen ausgesucht?

Eines meiner stärksten Instrumente ist die Intuition. Früher habe ich das natürlich immer verneint und daran gearbeitet, dass mein Kopf stärker wird. Inzwischen weiß ich: What I feel first, is usually the best. Ich meine nicht, dass man nicht mehr denken muss, aber ich konnte als Tänzer eh’ nicht so reden. Dann habe ich unterrichtet, dann wurde ich Direktor und habe choreografiert und musste diese mentale, intellektuelle Seite durch Lesen, durch Reden, durch Studieren sehr entwickeln, weil ich die nicht hatte.

Wenn Sie an zeitgenössische Komponisten denken: Wer sollte für Sie als Choreografievorlage ein Stück komponieren und warum?

Ich habe natürlich gehofft, Lachenmann würde das machen, weil er so radikal ist in seiner Aussage, aber he is so busy. Ligeti lebt leider nicht mehr, seine barock’sche Schreibweise wie in Lontano und Atmosphères ist unglaublich. Wenn ich jemanden an die Wand pflastern müsste, ist es bis heute er geblieben. Die Musik steht für mich immer an erster Stelle. ¶

Martin Schläpfer
Martin Schläpfer