Letzte Fragen, zweifelnde Antworten

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Luigi Dallapiccolas Einakter Il Prigioniero und La Passione von Romeo Castellucci – Thomas Hengelbrock und Kent Nagano eröffnen das Internationale Musikfest Hamburg. Bachs Matthäuspassion dient als Brücke zwischen zwei völlig unterschiedlichen, aber gleichermaßen denkwürdigen Ereignissen.

Text · Fotos © Bernd Uhlig · Datum 27.4.2016

Es pocht und pocht und pocht … Wie lästig, der Dirigent will doch beginnen. Wo kommt das verdammte Pochen her? Ist irgendein Generator kaputt, tief unten in den Kellern der Hamburger Laeiszhalle? Zwei, drei Minuten vergehen – herrje, das muss doch nicht sein! Ach so, allmählich wird klar: Das herzschlagartige Pochen kommt ja von den Pauken auf der Bühne und setzt sich in den tiefen Streichern fort, um dann in dem berühmtesten 12/8-Beginn der Musikgeschichte zu münden, dem Eingangschor aus Bachs Matthäuspassion: ›Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen‹. Ein kleiner, unaufwendiger Geniestreich von NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock, und alle sind wach, hellwach!

Die Wachheit erfährt noch eine Steigerung, als nach dem Schlussakkord das in e-Moll pulsende Tränen-Siciliano des Anfangs wieder anhebt. Was, noch mal das Ganze? Hengelbrock führt sein Orchester bis zum letzten Achtelschlag des Vorspiels, um kurz vor dem Moment abrupt abzubrechen, in dem eigentlich der Chor einsetzt. Zwei Sekunden atemlose Stille … dann Orchesterschläge, die bis ins Mark erschüttern. Willkommen in der Oper Il Prigioniero (Der Gefangene) von Luigi Dallapiccola!

Thomas Hengelbrock · Foto Florence Grandidier
Thomas Hengelbrock · Foto Florence Grandidier

Zwölftonmusik und italienische Belcantokunst treffen Bach. Was verbindet diese Welten bzw. die Werke? »Die Frage nach den letzten Dingen. Leider haben beide – weder Bach, noch Dallapiccola – keine erfreulichen Antworten«, so formuliert es der Musikwissenschaftler Ilja Stephan im Einführungsgespräch vor der konzertanten Aufführung des 1945-48 entstandenen Einakters.

Dallapiccollas Werk spielt im 17. Jahrhundert in einem spanischen Kerker. Ein Gefangener ist in den Händen der Inquisition, er wurde gefoltert, und der Scheiterhaufen ist ihm sicher. Am Beginn der Kurzoper steht ein Prolog, in dem die fast zur Gewissheit geronnene Angst der Mutter des Gefangenen (Ángeles Blancas Gulin, Sopran), dass sie ihren Sohn heute zum letzten Male sieht, eindrucksvoll in Musik gesetzt ist.

Danach entfaltet sich ein Drama in vier Szenen: (1) Der Gefangene (Michael Nagy, Bariton), schon fast wahnsinnig vor Angst und Schmerz, nimmt seine Mutter gar nicht mehr richtig wahr, sondern klammert sich an seinen letzten Strohhalm in Gestalt des Kerkermeisters Il Carceriere (Stephan Rügamer, Tenor), der ihn fratello (»mein Bruder«) genannt hat. (2) Der Kerkermeister kommt und schürt seine Erlösungshoffnung weiter, berichtet vom erfolgreichen Aufstand gegen den spanischen Gewaltherrscher in den Niederlanden und lässt bei seinem Abgang die Tür offen. (3) Der Gefangene wagt den Fluchtversuch und gelangt (4) tatsächlich durch den Kerker ins Freie. Er kann sein Glück nicht fassen: »Halleluja – ich bin frei!« Vor Freude will er einen Baum umarmen, hinter dem sich aber der Großinquisitor verbirgt, der wiederum kein anderer ist als der Kerkermeister selbst. In diesem Moment erkennt Il Prigioniero, dass das Schüren seiner Hoffnung durch die verbale Verbrüderung, die Schilderungen des erfolgreichen Aufstandes und die offene Zellentür der letzte und schlimmste Teil seiner Folter waren. Der Großinquisitor alias Kerkermeister führt ihn in Richtung Scheiterhaufen, und Dallapiccolas Stück endet mit dem hingeworfenen Wort des Delinquenten: »La libertà?«

Ist der Tod ewige Verdammnis, ewiges Nichts, zumindest Freiheit von der Qual, oder ist er, gar doch, Erlösung?

Einige Interpretationsversuche gibt es in diese vom Philharmonia Orchestra (London) produzierten Kurzdoku über Dallapiccola und Il Prigioniero,

Dallapiccola (1904-1975), der nach Vollendung des Werkes DEO GRATIAS (Gott sei Dank) unter die Partitur schrieb, enthielt sich zeitlebens des Urteils darüber, wie der Schluss des Werkes zu verstehen sei. Von ihm ist lediglich überliefert, er habe mit Il Prigioniero »den Zweifel selbst« auf die Opernbühne bringen wollen, wobei Zweifel nicht Verzweiflung ist. Zweifel behält Hoffnung, und Zweifel kann produktiv werden. (Hier der Link zum Programmheft)

Thomas Hengelbrock ist an diesem 22. April eine musikalisch grandiose Aufführung gelungen: Die Sänger überzeugen rundum, genauso wie das Orchester, dessen prägnantes Eingangsmotiv – Ilja Stephan nennt es treffend das »Terrormotiv« – immer wieder begegnet und sich regelrecht im Hörer einnistet. Die Klangwirkung der gut siebzig Profisänger der vereinigten Chöre des NDR und Dänischen Rundfunks erfüllt die Laeiszhalle bis in den letzten Winkel und erschüttert dieselbe wie ein Erdbeben! Dieser von Dallapiccola sogenannte Coro Interno zählt zu den besonderen Kunstgriffen der Partitur. So entfalten sich auf der Folie des eleganten Zwölftonstils Dallapiccolas wieder und wieder großartig-soghafte Klänge, die sich im atemlosen Hörer zu Angst-, Schmerz-, aber auch Hoffnungsbildern verdichten.

Dann der Schluss: Als Hengelbrock diese Zwölftonklangrede vollendet hat, hebt das rhythmische Herzschlagmotiv der tiefen Streicher wieder an, dann das unendliche e-moll-Lamento des Bach’schen Passionschores … Anders als beim ersten Mal aber kein abrupter Schluss vorm Choreinsatz, aber auch der Chor setzt nicht ein, stattdessen spielt das Orchester weiter, immer leiser, eine Art musikalisches Abklingbecken, am Ende nur noch Bass und Flöten und dann pulst nur noch der Herzschlag der Streicher und verebbt … Ende. Aus. Vorbei. Und wie schön ist das: Niemand hustet, kein Mobiltelefon klingelt, ein kostbarer Moment Stecknadelstille, bevor der Beifall losbricht.

Braucht der Dallapicolla den Bachrahmen? Im Prinzip nein, aber Hengelbrock umgeht zum Einen die Verlegenheit, dass das Konzert kürzer als eine Stunde gewesen wäre. Zum Anderen vermittelt er durch seine Bachzutat, deren Montierung an die alte liturgische Praxis erinnert, den Psalm im Gottesdienst von einem Deutevers, der sogenannten Antiphon, einzurahmen, eine Haltung. Eine Haltung, die möglicherweise weniger einen hoffnungsvolleren, gar österlichen Gegenentwurf zu Dallapiccolas monströsem Zweifel andeutet, sondern zunächst schlicht Mitgefühl mit dem Leiden der Kreatur. Oder wie es Bachs Verseschmied Picander ausdrückt: »… das gehet meiner Seele nah.«

»Das geht meiner Seele nah« kommt bei 1:15. Bach – sozusagen ein Scharnier; Matthäuspassion, Rezitativ ›Ach, Golgatha, unsel’ges Golgatha‹.

Was der Seele von Romeo Castellucci nahgeht, das weiß man nicht so genau, denn der italienische Konzeptkünstler verweigert sich klarer Deutung, sondern will mit seinen Werken Prozesse freisetzen. Castelluccis Beitrag zur Eröffnung des Hamburger Musikfestes heißt »La Passione«. Was ist das? Das ist zum einen Bachs Matthäuspassion, BWV 244. Sie wird einfach aufgeführt und das sehr ordentlich. Es singen größtenteils überragende Solisten – der allerbeste unter ihnen ist der Sänger der Christuspartie und (!) aller Bassarien, Philipp Sly, eher anstrengend – leider – Evangelist Ian Bostridge mit ein paar nervigen Forcierungen und Intonationsabstürzen. Es singt ein wirklich guter Chor – die Audi Jugendchorakademie, es spielt absolut überzeugend das Philharmonische Staatsorchester, und das Ganze dirigiert Kent Nagano.

Man sollte sich bei La Passione aber nicht lange mit der reinen Musik der Matthäuspassion und ihrer Aufführung aufhalten. Außerdem habe ich an anderer Stelle in VAN schon darüber geschrieben. Trotzdem schön, dass es sich ein hochmögendes Festival wie das Internationale Musikfest Hamburg leisten kann, Live-Musik aufzufahren und nicht nur eine Aufnahme aus den sechs riesigen Lautsprechern tönen zu lassen, denn so hat Castellucci die Möglichkeit, alle 136 Musikerinnen und Musiker einschließlich Solisten und Kent Nagano in klinisches Weiß zu kleiden, genauso gleißend wie die Wände der Hamburger Deichtorhallen. Während der Musik vollzieht sich in dem riesenhaften, etwa 50-70 Meter großen Weißraum zwischen Musikschaffenden und Publikumstribünen ein spezieller 18-Stationen-Kreuzweg, die Stationen sind Mischungen aus Szenen- und Objektkunst.

Das Publikum wird nicht im Unklaren darüber gelassen, was passiert: Auf jedem Platz liegt ein 40-seitiges Heft, mit Bildlegenden wie im Museum zu allen 18 Stationen. Den ganzen langen Eingangschor geschieht nichts auf der Zwischenfläche, der großen zweiten Ebene zwischen Musik und Publikum. Aber dann, als Jesus im ersten Rezitativ singt: » … des Menschen Sohn wird überantwortet werden, dass er gekreuziget werde«, wird die Porträtbüste des Römerkaisers Tiberius hineingetragen – wer’s genau wissen will, liest unter I – IMPERIUM im Indexheft:

Porträtbüste aus Marmor, Kopie aus der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin

Gewicht 61 kg, Höhe 40 cm, breite 24 cm, Tiefe 25 cm

Nebelmaschine

Und man liest noch mehr über diesen Tiberius, in dessen Regierungszeit Jesus gekreuzigt wurde: »… er legte keinen Wert auf Ergebenheitsadressen. Er lehnte es ab, wenn Tempel und Statuen ihm zu Ehren errichtet werden sollten. Er war menschenscheu, tatsachenorientiert und von rigider Selbstkontrolle …«. Schon fängt es an, in einem nachzudenken – ein Choral und ein Rezitativ erklingen,  ›Herzliebster Jesus, was hast Du verbrochen‹, und vorne steht diese Statue, eingehüllt in ein kleines Kunstnebelwölkchen …

Damit diese produktiven Irritationen in Gang kommen, muss man Multitasking können und am besten die Matthäuspassion gut kennen. Denn zum Endlich-mal-irgendwie-besonders-abgefahren-die-Matthäuspassion-hören ist La Passione ungeeignet. Hier muss man die fortlaufend fließende Matthäuspassion phasenweise zurückstellen können, um die anderen Eindrücke zu empfangen. Jenes Ehepaar, das – kaum sie das Index-Heft auf dem Platz erspäht hatten – lautstark den Entschluss kundtat »Das lesen wir zuhause!«, beriet sich schlecht. Wer grundsätzlich missversteht, dass es hier nicht in erster Linie um eine Matthäuspassion geht, die es als angeblichen Gipfel abendländischer Musik zu präsentieren und zu bewahren gilt, sondern um das Neue, was sie im Verbund mit Mischung aus Szenen und Objektkunst im Betrachter auslöst, kann die Flughöhe des Abends kaum erreichen. Castelluccis Kunst ehrt das Werk, und zu jeder seiner 18 Inventionen, die das Drei-Stunden-Ereignis ohne Pause prägen, entwickelt sich ein Eigenes.

Gerne lege ich Rechenschaft darüber ab, was mir an jenem 23. April 2016 in den Deichtorhallen durch den Kopf ging, als der Bus auf die Bühne geschoben wurde: Ja, richtig gelesen, ein echter Bus, zumindest ein halbierter, bewegte sich langsam von rechts nach links, einmal quer rüber. Laut Index-Heft (V ECCLESIA) wurde der »Kraftomnibus mit Einfachtüren« von der bayerischen Firma Omnibus Lindner am 23. März 1990 erworben und war 21 Jahre im Dienst, bis er 3.590 Reisen und 969.300 gefahrene Kilometer später nach einem Bruch der Antriebswelle am 20. November 2011 stillgelegt wurde.

Wo sind wir? In der Bachpassion ist gerade die berühmte Abendmahlsszene (»Nehmet, esset, das ist mein Leib …«) vorbei, und es erklingt die zweite Sopranarie samt Rezitativ (»Wiewohl, mein Herz in Tränen schwimmt … Ich will dir mein Herze schenken«). Als ich den gemächlich dahinschwebenden Bus sehe, fällt mir auf einmal – zum Glück ohne die im diesen Fall störende Melodie – das Lied Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt ein, ein paar Sekunden später dann plötzlich eine ganz andere Assoziation: Aus dieser Perspektive, so durchfährt es mich, könnte man den Bus »in echt« eigentlich nur aus den Tiefen der Erde anschauen, denn über mir sehe ich die vier Räder samt der Unterseite des Busses. Ich in der Erde? Begraben? Es rumort in mir: »Gemeinde, Gemeinschaft, in der Erde, im Grab, hat das was mit Abendmahl zu tun …?« – anstrengend, irritierend, aber auch belebend und gar nicht banal.  

Foto Reinhard Mawick
Foto Reinhard Mawick

Starker Beginn des Internationalen Musikfests Hamburg! ¶