Von Schafen und Chamäleons

cover-1461702489-51.jpg

Ein Interview mit Justin Doyle, dem designierten Chefdirigenten des RIAS Kammerchors, der zur Pressekonferenz anlässlich seiner Vorstellung in der Stadt war.

Text · Übersetzung · Fotos Matthias Heyde · Datum 27.4.2016

VAN: Du kommst erst 2017 zum Chor. Trotzdem: Wie gefällt dir Berlin so weit?

Justin Doyle: Ich lebe ja gerade in North Yorkshire, wo es kalt ist, viel regnet und wo es mehr Schafe als Menschen gibt (also auch mehr Schafe als Musiker). Bis jetzt war das optimal, weil Stille für mich wichtig ist. Ich gehe so gerne – leider nicht oft genug – in die Berge, um den Kopf freizubekommen.

Wenn man Berlin mit anderen großen Städten vergleicht, ist es in dieser Hinsicht faszinierend, sogar die U-Bahn ist hier leise. Und trotzdem ist die Stadt eine einzige Baustelle! Hier wird gebaut, dort wird eine U-Bahn verlängert; du siehst förmlich, was im Entstehen ist und das ist sehr aufregend. Mit dem Chor will ich das Profil hier in der Stadt festigen. Von vielen Leuten hört man, sie wüssten gar nicht, was der RIAS Kammerchor ist. Das muss sich ändern und ich muss herausfinden, wie.

Wie könnte das musikalisch aussehen?

Zunächst einmal über das Repertoire. Ich halte den Chor für ein Chamäleon, und darauf sind wir auch sehr stolz. RIAS kann alles, Alte und zeitgenössische Musik und alles dazwischen. Aber diese Vielseitigkeit ist eben kein Spezialistentum und deswegen etwas schwerer zu vermarkten.

Dabei hat es Nachteile, wenn man Spezialist ist: ein engerer Fokus, begrenztere Möglichkeiten. Ich selbst mache Oper, Chöre und Orchesterwerke. In Berlin kennt man mich als den Chor-, in Leeds als den Operndirigenten. Das bedeutet mir viel, weil so alles frisch bleibt und es gegenseitige Einflüsse gibt.

Für einen Chor ist diese große Bandbreite auch gut, aber RIAS muss wirklich Bekanntheit erlangen für Händel, Hochbarock und zeitgenössische Musik.

Was sind denn die größten Unterschiede zwischen dem Dirigieren eines Chors und dem Dirigieren eines Orchesters? Ist eines unmittelbarer als das andere?

Gute Frage. Also, es gibt schon einen Unterschied, nach dem frage ich auch meine Studenten immer beim ersten Treffen. Die erste Antwort ist immer: Für den Chor benutzt man keinen Stab. Die zweite Antwort: Der Chor hat keine Instrumente ( – klar hat er das, seine Stimmen). Irgendwann aber fällt das Wort ›Text‹. Orchester haben in der Regel keinen Text, keine Geschichten. Wenn ich eine Sinfonie dirigiere, dann habe ich meistens einen Text im Kopf, irgendeinen Handlungsablauf. Den verrate ich den Musikern nicht, aber er hilft mir bei der Struktur und Architektur eines Stückes.

Dann gibt es einen Unterschied in der Herangehensweise beim Dirigieren, auch wenn der eigentlich keine große Rolle spielen sollte. Es gibt ihn aber, weil Sänger und Sängerinnen nicht unmittelbar Töne treffen. Ein Cellist weiß: das ist ein f; abgesehen von ein, zwei Leuten gibt es so etwas in einem Chor nicht. Also geht es viel stärker um das Erlernen, bzw. Einüben von Tonhöhen; man sollte nicht bevormunden, aber muss doch stärker Lehrer sein. Für Orchesterdirigenten ist das oft schwierig; da sie das so nicht kennen, erwarten sie, dass die Noten perfekt und blitzartig da sind. Außerdem vergessen sie oft zu atmen, das sollte man ungefähr mit jedem Auftakt machen, wenn man mit einem Chor arbeitet.   

Man nimmt in der Klassische-Musik-Welt Chöre nicht so sehr wahr wie Orchester, hast du eine Erklärung, warum das so ist?

Es fasziniert, wie Orchester auf der Bühne aussehen und klingen. Sie können so unterschiedliche Sachen hervorbringen. Und das, obwohl der Chor, wie gesagt, einen Text hat und damit viel direkter kommunizieren kann. Außerdem geht es beim Chor stärker um das Gemeinsame, das Mitmachen. Klar, ein Instrument zu lernen, ist schwieriger – wir werden nicht über Nacht an der Superstar-Position von Orchestern drehen. Trotzdem kann ich mir vorstellen, das Mitsing-Events mit echtem Chor-Repertoire dem Publikum noch mehr Freude am Konzert bringen und Chöre in populäreres Licht rücken könnten; so etwas sollten wir beim RIAS Kammerchor unbedingt in Angriff nehmen.

Für ein Orchester kann man ganze Konzerte mit diesem klassischen Ouvertüre-Concerto-Sinfonie-Sandwich programmieren, drei große Namen an einem Abend (ich versuche zunehmend, an dieser Art der Programmgestaltung zu drehen). Aber wie viele Stücke in dieser Größenordnung gibt es für einen a-capella-Chor? Dessen Konzerte bestehen meist aus einem Kaleidoskop kleinerer Werke, das ist naturgemäß schwieriger zu bewerben.

Was ist das Besondere am Klang des RIAS Kammerchores im Vergleich zu anderen, sagen wir, englischen Chören?

Manche Chöre haben einen reichen, warmen Klang mit einem wenig betonten Anschlag (attack); bei anderen ist es spröder und transparenter; manche klingen dunkel, manche heller, wobei das viel mit der Ausformung von Vokalen zu tun hat, also mit der Sprache in der gesungen wird. Der RIAS Kammerchor hat einen sehr warmen, luxuriösen Klang, mit extrem geschulten Stimmen. Es sind aber chorale Chamäleons, die können offenbar fast alles! Eine schöne Klangfarbe und eine ziemlich gute Stilkenntnis, also.

https://www.youtube.com/watch?v=r-KQ7mBbBvg

Drei Motetten von Bruckner, dann Brahms und Mendelssohn. Der RIAS Kammerchor beim Rheingau Musik Festival. Aufzeichnung von ARTE bei Youtube.

Es gibt natürlich keinen typisch englischen Chor, aber in der Tradition der Cathedral choirs wird die Sopran-Stimme oft von Knaben gesungen, also in der Regel ohne oder mit nur wenig Vibrato. Auf diese Weise erhält man einen ›reinen‹, klaren und naiven Klang oder auch etwas Schärferes, Exzentrischeres; das hängt dann von der jeweiligen Chortradition und der Schule des Dirigenten ab.

Gibt es überhaupt eine spezifisch britische Chortradition, die sich von anderen europäischen Ländern unterscheidet?

In England ist die Tradition der Laienchöre sehr verbreitet, sowohl im Sinne großer Chöre für Oratorien, als auch kleiner Kammerchöre. Dann gibt es die Kirchentradition für die täglichen Gottesdienste mit unterschiedlicher Musik, dafür braucht es exzellentes Können beim Vom-Blatt-Singen. Und dazu kommen diese Weltklasse-Jugendchöre; die National Youth Choirs Großbritanniens und Schottlands, zum Beispiel. Man versucht dort gerade sehr viel, um junge Leute wieder zum Singen zu bringen, und ich glaube, dass muss in Deutschland auch passieren. Dennoch, auch hier gibt es herausragende Kirchenchöre, die gilt es zu erhalten!

Am 1. Januar 2017 wirst du Theodora von Händel in Berlin dirigieren. Welche zeitgenössischen Werke schweben dir für die nächsten Saisons mit dem RIAS Kammerchor vor?

Mir ist ein Kulturaustausch wichtig; zum Beispiel ist einer meiner Lieblingskomponisten, James MacMillan aus Schottland, hier nicht bekannt. Georg Friedrich Haas, auf der anderen Seite, ist nicht der berühmteste Komponist in England. Manche britischen Verlage bringen ihre Sachen gut in die Vereinigten Staaten, aber nicht aufs europäische Festland. Es wäre großartig, in dieser Hinsicht einen offeneren Dialog zu haben. Außerdem sollten wir wirklich die jungen Komponist/innen unterstützen.

Es gibt heutzutage nicht genügend neue Musik für Chöre?

Wahrscheinlich gibt es die schon, aber wir, zumindest ich, weiß nichts davon. Es ist wirklich schwer, als Komponist zu einem Profil zu kommen … von mir hat man ja auch noch nicht gehört.

Und wie geht es dir damit?

Gut. Ich habe keine Webseite und bis gestern auch noch keine Pressefotos. Ich bin nicht gerne der Laute, sehe mich eher als Coach.

Und wenn ich meinen Job wirklich gut mache, dann bereite ich den Chor vor, übe mit ihm, zähle ein und gehe in den Pub. Das wäre perfekt. Aber man hat normalerweise eben nicht so viel Probezeit und natürlich ist deshalb der Job des Dirigenten während der Vorstellung wichtig. Für mich ist es das Wichtigste, eine saubere Technik zu haben, weil alles, was wir hier tun (er zeigt seine Hände, d. Red) soll Klang produzieren. ¶