042/250: Lucrezia Orsina Vizzana

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250 Komponistinnen. Folge 42: What a nun!

Text · Datum 2.9.2020

Vor 430 Jahren, am 3. Juli 1590, wurde in Bologna Lucrezia Orsina Vizzana geboren. Vermutlich zeigte Lucrezia schon als sehr junger Mensch Interesse an Musik, reagierte vielleicht auf die Werke der Gottesdienste, die sie als Tochter einer wohlhabenden Adelsfamilie zu besuchen hatte, auf besondere Weise; möglicherweise fiel ihre schöne Gesangsstimme in diesen kirchenmusikalischen Kontexten auf – oder Lucrezias musikbeflissene Tante Camilla Bombacci gab als Erste Anlass, die Talente ihrer Nichte zu fördern. Schließlich war Bombacci als Organistin und Novizenmeisterin (später sogar als Äbtissin) des Emeriten-Klosters der Kamaldulenser von Santa Cristina in Bologna tätig.

In dieses Kloster ihrer Tante wurde Lucrezia – damals nicht unüblich – bereits im Alter von acht Jahren geschickt. Dort erhielt sie wohlmöglich prompt Unterricht bei eben jener Tante Camilla in den Fächern Tonsatz, Komposition und Gesang. Der frühe Eintritt ins Kloster war wahrscheinlich – so lässt sich leicht spekulieren – durch das besagte vermutete Großtalent der ganz jungen Lucrecia Vizzana motiviert, konnten doch Frauen beziehungsweise Mädchen zu dieser Zeit im Grunde nur dort, hinter vermeintlich gottesfürchtigen Klostermauern, kompositorisch tätig werden beziehungsweise überhaupt in den Genuss einer umfassenden musikalischen Ausbildung kommen. Auch wurde Vizzana wahrscheinlich eben hier zur Organistin ausgebildet – naheliegenderweise wohl durch Ottavio Vernizzi (1569–1649), der so etwas wie der Musikdirektor des Klosters und zugleich der Organist der Basilika San Petronio in Bologna war – und damit Kirchenmusiker in den Mauern der größten Backsteinkirche der Welt.

Im Bologneser Kloster Santa Cristina musizierte man demnach auf höchstem Niveau, wozu auch der im norditalienischen Faenza geborene Komponist und Organist Gabriele Fattorini (ca. 1570–ca. 1615) und der komponierende und orgelspielende Benediktiner Adriano Banchieri (1568–1634) aus Bologna durch ihr musikalisches Wirken beitrugen. Diese beiden Komponisten führten doppelchörige Werke im Kloster Vizzanas auf; also Werke, bei denen Sänger:innen und/oder Instrumentalist:innen jeweils auf mindestens zwei verschiedenen Kirchen-Emporen postiert sind, um sich die motivisch-periodischen Bälle gewissermaßen im sakralmusikalischen »Wettstreit« hin- und herzuwerfen – mit dem Resultat einer umfänglichen, immersiven, die Katharsis der religiösen Musik intensivierenden Stereo-Ereignis-Erfahrung.

Das doppelchörige Komponieren, Musizieren, Singen und Organisieren war vor allem in norditalienischen Regionen beliebt – insbesondere in Venedig, wo Andrea (ca. 1532/33–1585) und sein Neffe Giovanni Gabrieli (1554/57–1612) an San Marco mit ihrer feierlichen, emotional bewegten Mehrchörigkeit Musikgeschichte schrieben. Vizzana ihrerseits legte 1623 die gerühmte Sammlung Componimenti musicali de motetti concertati a una e più voci vor; eine Notensammlung von Motetten für ein bis vier Gesangsstimmen, begleitet jeweils von einem notierten Generalbass; eine Zusammenstellung, die als erste überhaupt veröffentlichte Musiksammlung einer Nonne in Bologna ebenfalls in die Geschichtsbücher einging. Die mehr als eine Gesangsstimme erfordernden Stücke Vizzanas kommen in der Tat als Werke für potentiell »doppelchörige« Aufführungen infrage, weisen sie doch in Satz und Struktur Ähnlichkeiten zu der damals aktuellen Stilistik auf, sprich: Die mehrstimmigen Teile der Sammlung sind häufig in direkter Abfolge imitatorisch gearbeitet; mögliche – aber keineswegs verpflichtende – Anzeichen für das (im Resultat wohlklingende) Erfordernis doppelchöriger Aufführungen. (Das imitatorische Komponieren im kirchenmusikalischen Kontext per se war freilich keineswegs »neu« – und noch weniger Hinweis für mitgedachte doppelchörige Intentionen.)

Die Sammlung widmete Vizzana den Nonnen ihres Klosters von Santa Cristina, wo sie nach ihrem frühen Eintritt mit elf Jahren Novizin geworden war und 1606 – im Alter von 16 Jahren – ihr frommes Gelübde ablegte. Zu Vizzanas Zeit blühte das Musikleben in ihrem Kloster, doch offenbar führte eben das zu Neid und damit zu entsprechenden Konflikten innerhalb der Institution, die bis nach Rom berichtet wurden. Die zunehmenden Streitigkeiten sorgten wahrscheinlich dafür, dass sich Vizzana in ihren musikalischen Tätigkeiten früh zur Ruhe setzte und fortan als »mental instabil« galt.

Lucrezia Orsina Vizzana starb im Alter von 71 Jahren am 7. Mai 1662 im Kloster Santa Cristina in Bologna.

Lucrezia Orsina Vizzana (1590–1662)O invictissima Christi martir et virgo

Vizzanas Werke sind deutlich vom Stile moderno, von der Seconda pratica geprägt, die im Anschluss an das musikalische Vermächtnis Claudio Monteverdis (1567–1643) sich anschickte, die »moderne« – plastischere, durchlässigere – Musik gegenüber der eher intellektuell polyphon-durchflochtenen Kirchenmusik alten Schlags zu bevorzugen.

Der Text der geistlichen Motette O invictissima Christi martir (»Oh, unbesiegbarer Märtyrer Christi«) besingt weniger die Unbesiegbarkeit Christi; dem unbezwingbaren Märtyrer am Kreuze wird nur zu Beginn – quasi verpflichtend – gehuldigt. Vielmehr steckt der von Vizzana ausgewählte Text voller biographischer Selbstreferentialität! Nach dem textlichen Einstieg heißt es: »…et virgo Christina, Christina sancta, tutrix nostra…« (»…und Jungfrau Christina, heilige Christina, unsere Lehrerin…«.) Mit besagter Christina ist die Heilige Christina von Bolsena gemeint, die im 3. Jahrhundert in der römischen Stadt Bolsena (Provinz Viterbo) lebte und als Jungfrau und Märtyrin verehrt wird; Christina hatte – der Erzählung nach – die ihr aufgedrängten verschiedenen Bildnisse alter römischer Götter zerstört, da sie nur einem einzigen, nämlich dem christlichen dreifaltigen Gott ihr Opfer darbringen wolle. Dafür wurde Christina bestraft; sie, Christina – eine Frau von schönem Antlitz, die trotz ihrer Schönheit nicht verehelicht wurde, sondern den römischen Göttern dienen sollte – blieb von allen ihr nach der Götterbild-Zerstörung angetanen drastischsten Qualen – Auspeitschen, Ertränken, Verbrennen, Schlangengrube, Herausreißen der Zunge – unversehrt; keine Folter konnte ihr etwas anhaben. Erst nachdem man ihr, Christus gleich, Pfeile ins Herz und in die Seite stieß, verstarb Christina, die als Patronin der Müller:innen, Seeleute und Bogenschütz:innen gilt.

Das Widerständige der Christina von Bolsena hat Lucrezia Orsina Vizzana offenbar besonders gereizt, denn auch sie widerstand allen möglichen Anfechtungen und musste sich – freilich auf musikalischem Sektor – viele Jahre kämpferisch durchsetzen. Lucrezia verbindet gewissermaßen mittels ihrer Komposition ihr eigenes künstlerisch-kämpferisches Ich mit der Legende der großen Märtyrerin, welche sich der strafenden (Männer-)Welt trotzend erwehrte. Zugleich huldigt Vizzana der Heiligen Christina als der Patronin des besagten Klosters von Santa Cristina, in dem die Komponistin fast ihr gesamtes Leben verbrachte.

Dem Wort »Christi« wird – wie in geistlichen Vokalkompositionen durchaus »häufig« bis »üblich« – zunächst die höchste – würdigste, heiligste, göttlichste – Note (d2) zugestanden. Auf einem äußerst beruhigten, erst lediglich in ganzen Notenwerten fortschreitenden (beziehungsweise eher: stehenbleibenden) Bass ergeht sich die erste Gesangsstimme vornehmlich in verschieden punktierten, verhaltenen Bewegungen – und handelt die Würdigung des für unsere Sünden gestorbenen Erretters schnell ab: »O invictissima Christi martir«: ja, gut, sicher. Doch dann! Anschließend wird nicht nur die Heilige Christina auf den Plan gerufen, sondern quasi über Christus gestellt! Direkt an den erwähnten Textbeginn schließt sich die Zeile an: »…martir et virgo Christina«! Also nicht nur »martir« (wie Jesus), sondern – Jungfrau ist Trumpf! – »martir et virgo«! Erhebt sich hier Schwester Lucrezia, die sich mit den Nonnen und den Kapellmeisterinnen ihres Klosters von Santa Cristina anzulegen pflegte, über die »Männerwelt« (zu der Jesus und seine Jünger schließlich auch zählten)?

»Lucrezia verbindet gewissermaßen mittels ihrer Komposition ihr eigenes künstlerisch-kämpferisches Ich mit der Legende der großen Märtyrerin, welche sich der strafenden (Männer-)Welt trotzend erwehrte.« Ein Porträt in @vanmusik.

Der Name »Christina« wird sogleich viermal wiederholt! Jeweils von »drüben« (eventuell von der anderen Empore) hinübersingend, imitierend, auf den gleichen Tönen! Die Heilige Christina übersteigt den höchsten Jesus-Ton um eine kleine Sekunde – und geht bei der zweiten Erwähnung ihres Namens auf der zweiten Silbe zum es2 hoch. Sakrileg! Und überhaupt: Was für ein sakralvokales Kleinod voller Vielfalt, voller rhythmischer Überraschungen, Aufreibungen und Aufregungen! What a nun! ¶