»Ein überdimensionales Mikado«

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Titularorganist Olivier Latry über den Zustand der Orgel in Notre-Dame, ein Jahr nach dem großen Brand.

Text · Titelbild _chris_st (CC BY-NC 2.0) · Datum 15.4.2020

Vor einem Jahr wurden Paris und im Grunde das gesamte kulturelle Europa erschüttert, als die über 700 Jahre alte Kathedrale Notre-Dame Feuer fing und stundenlang in Flammen stand – womöglich verursacht durch eine kleine Unaufmerksamkeit, einen Kurzschluss oder eine vergessene Zigarette. Wie durch ein Wunder wurde die große Cavaillé-Coll-Orgel von dem Brand verschont und überlebte die Nacht, weitestgehend unberührt, wie man vor einem Jahr dachte. Im Interview sprach Titularorganist Olivier Latry im April 2019 zwar schon von seiner Befürchtung, fünf bis zehn Jahre lang nicht mehr auf seinem Instrument spielen zu können – doch wird genau das nun zur fühlbaren Realität. Durch die Corona-Pandemie fallen außerdem alle anderen Konzerte aus, die der Organist in den nächsten Monaten auf anderen Instrumenten der Welt gespielt hätte – ein Fluch oder ein Segen, man weiß es nicht. Genau 368 Tage nach dem letzten Gespräch geht Latry nach kurzem Freizeichen an sein Telefon.

VAN: Wann waren Sie das letzte Mal in Notre-Dame?

Olivier Latry: Ein Monat nach dem Brand. Danach nicht mehr – zumindest nicht in der Kirche. Von draußen besuche ich sie natürlich häufiger. Aber es gab in der Zeit viele Treffen wegen der Orgel.

Letztes Jahr haben Sie gesagt, dass Sie das Instrument wohl erst nach der Restaurierung der Kirche wieder werden spielen können. Wie ist der Stand aktuell?

Die Orgel sollte eigentlich Ende dieses Monats komplett abgebaut werden, das wird aber aufgrund der aktuellen Situation nicht passieren. Hoffentlich schaffen wir es im Mai. Der Abbau wird fünf bis sechs Monate dauern, danach müssen wir sie dekontaminieren und restaurieren, und die Restaurierung dauert drei bis vier Jahre.

Und dann muss sie wieder aufgebaut und neu intoniert werden, das ist eine Riesenaktion …

Aktuell ist geplant, dass die Kathedrale am 16. April 2024 wieder geöffnet wird.

Halten Sie das für realistisch?

Ja, ich denke schon. Wenn es nicht jedes Jahr eine neue Coronavirus-Pandemie gibt.

Wie ist momentan der Plan der Restaurierung der Kirche?

Wegen des Virus verzögert sich gerade alles. Was eigentlich als nächstes anstand, war der Abbau des Baugerüstes in der Kirche, das schon vor dem Brand dort stand – zur Restaurierung der Turmspitze. Das ist aber höchst problematisch, weil nicht klar ist, wie stabil es noch ist.

Foto Alberto Trentanni (CC BY-NC-ND 2.0)
Foto Alberto Trentanni (CC BY-NC-ND 2.0)

Es könnte also einstürzen?

Es könnte einstürzen, und wenn es fällt, könnte auch ein Teil der Kathedrale einstürzen, also ein Stück der Mauer und vielleicht auch das Dach. Die Einzelteile des Gerüsts sind wegen des Brands ineinander verkeilt und wie eingeklemmt, es ist sehr gefährlich – wie ein überdimensionales Mikado. Nach dem Brand haben die Bauarbeiter*innen das Gerüst stabilisiert und hoffen, dass es hält. Wann es aber genau möglich sein wird, es abzubauen, ist nicht klar, aber das ist der nächste Schritt.

Im Grunde war es aber also wie ein Stabilisator während des Brands?

Ja, vielleicht war es sogar ein großes Glück, dass dieses Gerüst da war.

Wie geht es Ihnen heute überhaupt, ein Jahr nach dem Brand?

Es geht. Normalerweise spiele ich in dieser Zeit jeden Tag, jede Woche Konzerte auf schönen Instrumenten überall in der Welt, jetzt ist es komplett anders. Die Orgel in Notre-Dame hätte ich vermutlich ohnehin weniger gespielt als andere Instrumente.

Titularorganist Olivier Latry über den Zustand der Orgel in Notre-Dame, ein Jahr nach dem großen Brand. In @vanmusik.

Machen Sie nun gar keine Musik im Moment?

Doch, zu Hause, zusammen mit meiner Frau.

Und die nächsten Konzerte …?

Die sind dann wieder in ein paar Monaten. Hoffentlich. ¶