»Ich glaube an keine einzigartigen Stücke.«

cover-1535557152-39.jpg

Mathias Spahlinger über die Unmöglichkeit, eine Playlist zu erstellen.Auszüge aus einem Gespräch.

Text Patricia Cortile · Titelbild © Astrid Ackermann · Datum 29.8.2018

Telefonat vom Hotel aus in Frankfurt nach der Probe mit dem Ensemble Modern Orchestra zur Aufführung von passage/paysage am 3. September in der Philharmonie. Zu Beginn noch der Versuch über das Erstellen einer Playlist zu verhandeln, was sich aber im Verlauf des Gespräches als nicht mehr wesentlich erweist. Viele Gesprächsausflüge bleiben hier unnotiert.

Mir kommt das doch sehr willkürlich vor. Ich glaube an gar nichts. Ich glaube an keine einzigartigen Stücke. Sicher gibt es Werke, Komponisten, die Großartiges geschrieben haben, aber irgendwo sind immer Fehler resultierend aus der Geprägtheit durch die Zeit. Und was sagt es aus, wenn ich eine Liste an Werken erstelle – es müssten viele Hundert sein. Eine Auswahl ist nicht möglich. Ich vermeide es grundsätzlich, über meinen persönlichen Hintergrund zu reden, das hilft gar nichts zum Verständnis meiner Kompositionen. Und mit so einer Auswahl gebe ich sehr Persönliches preis. Jeder glaubt jetzt etwas über mich zu wissen, dabei kennt er mich gar nicht.

Ich liebe Robert Walser – heiß und innig. Alles habe ich gelesen. Es gibt ein Buch mit dem einfachen Titel »Prosa«. Es ist das Beste, was ein Herausgeber gemacht hat, um einen Schriftsteller vorzustellen. Leider vergriffen. Ich kaufe ständig Exemplare im Antiquariat, um sie Freunden zu schenken. Die großen Formen haben Walser nicht so gelegen, aber die Kurztexte. Sie sind einfach alle so gut geschrieben, in einem fabelhaft guten Deutsch. Walser ist sprachlich ähnlich virtuos wie Kafka, aber mit einer Leichtigkeit. Es mag auch daran liegen, dass er die Art und Weise wie er schreibt selbst zum Thema macht. Und das ist vollkommen anders als zum Beispiel bei Thomas Mann, der ständig seine Meisterschaft betont.

Ich habe gerade die Sinfonien von Beethoven in einer Aufnahme mit The London Classical Players und Roger Norrington noch einmal gehört – sozusagen als Gedächntnisauffrischung. Die fand ich immer prima, vor allem die 5. Symphonie. Und jetzt ist es mir stellenweise auf den Wecker gegangen und ich kann auch genau begründen, warum. Diese Aufnahme der 5. Symphonie ist großartig – und sie ist unter anderem deswegen so gut, weil die Pauken ganz harte Schlegel benutzen. Die Pauken halten nicht einfach eine Dauer aus, sondern da ist im Paukenschlag noch eine Dynamik. Das Ganze ist sehr frisch und immer in den richtigen Tempi. Dann macht Norrington die Harmoniestimmen ziemlich laut und das drückt aufs Tempo, man hat also den Eindruck, es ist besonders flüssig. Bei der 5. Symphonie ist das prima, aber bei allen anderen Symphonien macht er das auch. Und das ist es, was angefangen hat, mir auf den Wecker zu gehen. Dass er ohne Rücksicht auf die Sonderformen oder Sonderstrukturen, da immer das Gleiche macht. Das bricht mir dann auch keinen Zacken aus der Krone – jetzt habe ich wieder was gefunden, was mir nicht gefallen hat.

Nein, aber jetzt bloß keinen Interpretationsvergleich.

Ich habe wirklich mal Lieblingsstücke in ganz bestimmten Aufnahmen gehabt oder Dinge, die niemand kennt, zum Beispiel die Ba’Aka-Pygmäen, die habe ich im Rundfunkarchiv entdeckt. Oder die Heldenballaden der Wikinger von den Färöer-Inseln, eine Kunstform, die mit Einführung des Fernsehens mehr oder weniger ausgestorben ist – das ist unglaublich interessant. Sie sind ein Beweis dafür, dass mündliche Überlieferung ganz andere Qualitäten haben kann und eine sehr verlässliche Quelle sind, mehr als schriftlich tradierte Kunst, die sich viel schneller verändert.

Und ich hatte mal eine Zeitlang den verfehlten Ehrgeiz, meinen Studenten Geschmack beibringen zu wollen. Da habe ich eine CD zusammengestellt, mit lauter kurzen Nummern, die nicht länger als 7 Minuten waren, die alle zu meinen Lieblingsstücken gehört haben, Thelonious Monk und Ornette Coleman waren dabei, aber eben auch so Dinge wie die genannten Balladen der Färöer-Inseln, die man überhaupt nicht kennt. Dann habe ich also eine Muster-CD erstellt und als ich anfing, die zu kopieren, habe ich überlegt: »Nein, das mache ich nicht! Das ist wie eine Proklamation. Ich zeige Euch jetzt mal, was richtig gut ist. Ihr habt keine Kriterien, das zu beurteilen, deswegen sage ich Euch das jetzt. Und wer mir widerspricht, ist doof.« Das ist doch die Haltung, die aus so was spricht. Wie konnte ich überhaupt nur einen kurzen Moment denken, da hätte jemand was davon.

Dieser Ehrgeiz beruhte auf dem biografischen Glücksfall, dass ich als Leiter des Instituts für Neue Musik in Freiburg einfach nur noch unterrichten konnte, was ich wollte, was mein Hauptinteresse ist: nämlich herauszufinden, was die Neue Musik von der traditionellen und zwar von jeder traditionellen – aller Kulturen – unterscheidet. Und die Stücke die ich ausgesucht habe, die ich analysiert habe. Die konnte ich ganz nach meinem Thema aussuchen. Und ich habe mich nie – das habe ich dann später bemerkt – mit einer Komponistin oder einem Komponisten auseinandergesetzt, die oder der vielleicht wichtig ist oder im Musikleben eine Rolle spielt, den ich nicht leiden kann. Ich habe nur positiv über Musik gesprochen, liebevoll und begeistert, weil ich immer nur ehrlich sein wollte.

Und ich mache jetzt auch nicht eine Negativ-Liste.

Braucht die Menschheit Playlisten? Für mich hat diese Form der Öffentlichkeit etwas mit der Selbstdarstellung von Leuten zu tun, die berühmt dafür sind, dass sie berühmt sind, und eigentlich damit dann wieder nur sagen wollen, dass sie berühmt sind. Es lebt ja auch eine ganze Industrie davon, dass man Persönlichkeitsprofile erstellt. Und die sind immer vereinfachend. Und es gibt dann diesen Moment, dass die Leute erschrecken, weil diese Person, die sie geglaubt haben zu kennen vielleicht, Kümmel kaut oder ähnliches. Das gehört zu der Stilisierung, zu diesem Größebedürfnis. Dass eben Persönlichkeitsprofile erstellt werden, die kohärent sein müssen und nicht voller Widersprüche sein dürfen. Ich habe da ein Problem. Die Leute wissen etwas von mir, aber wissen viel zu wenig und packen mich in ein Weltbild, wo ich überhaupt nicht reinpasse. Es hat was mit Profiling zu tun. Und das hat man schon mit unseren Klassikern hinterrücks gemacht. Und einen, den ich am liebsten habe ist der Hölderlin. Da habe ich jede Zeile bestimmt dreimal gelesen oder mehr. Und ich weiß, dass der auch einen Hau gehabt hat, aber das macht doch nichts. Man muss sich doch abgewöhnen, dass jemand in bestimmter Weise zu sein hat, damit man ihn schätzt. Und das schlimmste finde ich, wenn man sich Musik so nähert. ¶