»Ein verliebter Trottel wie Romeo interessiert mich ned«

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Extremist und Experte des Abgrunds: Ein Treffen mit Bariton Georg Nigl, der in Zürich mit Hans Neuenfels und Erik Nielsen für Manfred Trojahns Oper Orest probt.

Text · Titelbild © Bernd Uhlig · Datum 15.2.2017

Fast wie Hugo Wolf sieht er aus mit Bart und dringendem Blick, wie er so über die Probebühne rast, singend, flüsternd, brüllend: Georg Nigl als Orest. Der 76-jährige Regisseur Hans Neuenfels kann den Extrembariton kaum zähmen, spannender kann keine Probe sein – und in den Pausen treffen sich die beiden zum Rauchen. Im Opernhaus Zürich hat am 26. Februar Manfred Trojahns Oper Orest unter der Leitung von Erik Nielsen Premiere, drei Wochen zuvor hat sich Volker Hagedorn nach der Probe mit Georg Nigl unterhalten. 1972 in Wien geboren, stand Nigl mit neun Jahren erstmals als Sängerknabe auf der Opernbühne. Mittlerweile gilt er als Spezialist für Männer am Rande des Abgrunds, von Monteverdis Orfeo bis zu Rihms Jakob Lenz. Beide Rollen ließen den Hochschulabbrecher 2015 zum »Sänger des Jahres« werden. Nigl arbeitet häufig mit zeitgenössischen Komponisten wie Wolfgang Rihm und Pascal Dusapin zusammen. Jenseits der Oper ist er auch als Liedsänger unterwegs – jüngst gestaltete er ein Schubertprogramm mit Andreas Staier am Fortepiano in der Londoner Wigmore Hall.

VAN: Herr Nigl, Sie wurden vor kurzem an der Wiener Staatsoper als Papageno bejubelt, aber meistens spielen Sie gebrochene Figuren. Den gedemütigten Wozzeck bei Berg, den wahnsinnigen Lenz bei Rihm, jetzt in Trojahns Oper den Orest, der seine Mutter umgebracht hat und zu einem weiteren Mord getrieben wird. Was interessiert Sie an diesen Rollen?

Georg Nigl: Wann der Bruch entsteht und wodurch. Meistens durch die Umwelt, Vatergeschichten, die Tat der Gesellschaft am Individuum. Orest kommt ja aus einer unglaublich blutrünstigen Familie. Der Bezug zu Apoll, zum Über-Ich, dem Gott, der ihm sagt, was er tun soll, das ist für mich ein Link zur Schizophrenie. Ich empfinde den Orest als eher künstlerisch interessierten Menschen, den Macht und Mord und Tod überfordern. Er will träumen, aber man lässt ihn nicht!

Ich habe vorhin erlebt, wie Sie und der Regisseur Hans Neuenfels an dieser Figur arbeiten. Er denkt oft lange nach, Sie sind dagegen sehr schnell.

Ich hab´ ganz großes Vertrauen zu ihm. Er führt mich, aber ich führ´ ihn auch. Wir tasten uns gemeinsam durchs Dunkel, dann ist die Angst geringer. Was Orest erlebt, ist ned so angenehm. Da ist es ist notwendig, dass du einen ruhigen Partner hast, der dich an der Hand nimmt. Ich fühle mich sehr beschützt bei ihm.

Georg Nigl und Claudia Boyle bei den Proben zu Orest • Foto © Danielle Liniger
Georg Nigl und Claudia Boyle bei den Proben zu Orest • Foto © Danielle Liniger

Und Sie gehen sehr weit in Ihrer Darstellung, im Getriebensein.

Ich hab´mal erlebt, wie Bartoli bei einer szenischen Probe auf der Bühne liegen sollte und Flimm, der Regisseur, hat sie gefragt, geht das? Da sagte sie, I´m a new generation of singers, I can do that. Da hab´ ich mir gedacht, des kamma toppen … Mich persönlich interessiert nicht nur das Schöne. Die Leute zu unterhalten, das ist nicht mein unbedingtes Begehr. Für mich ist ein Schrei ein Schrei, fertig, nicht lautes Singen. Es ist eine Not, die muss verstanden sein.

Sie gehen sehr stark vom Wort aus.   

Man versteht bei mir jedes Wort, weil das Singen aus dem Wort entwickelt wird. Wenn man sich Oskar Werner anhört oder Laurence Olivier, große Schauspieler der Fünfziger und Sechziger – die kommen aus einer Tradition des Theaters, wo noch so melodisch gesprochen wird, dass es fast schon Singen ist. Man hatte keine Angst vor dem so genannten Pathos. Ich finde schade, dass man etwas aus dem Sprechtheater verbannt hat, was nicht nur Bäh ist, wenn man weiß, wie es geht. Die Musik hat sowieso eine unglaubliche Kraft, der kann man sich nicht entziehen. Dann kommt aber, so empfinde ich das für mich, ein solches Irisieren der Seele dazu, dass aus dem Sprechen heraus ein Singen entsteht. Ich sage nicht: ›Ich liebe dich‹, sondern (er singt:) ›Ich liebe dich so wie du mich…‹ Es sind existentielle Gefühle, die ES singen machen.

Warum singen Sie so gern auf der Bühne?

Ich mag den Staub und das Licht. Ich war Ministrant, als sehr kleines Kind schon. Vielleicht hat das auch damit zu tun: Diese eine Treppe höher, dieser Fokus. Das ist sexy, das hat was. Aber was ich am schönsten finde, ist so ein Moment in der Oper, wo man ganz einsam ist, wo man die Träne weint, die man alleine hat. Wenn es dir dann gelingt, dass die Menschen mit dir mitatmen, bist du zwar einsam, aber nicht allein.

Sie haben mal erzählt, dass Ihre Mutter mit Ihnen immer zum Einkaufen durch den Wiener Augarten ging, vorbei am Domizil der Sängerknaben …

Dass es die Sängerknaben waren, wusst´ ich nicht. Das war dieser betörende Klang, das ist ja wie Engel, wenn bei den Proben im Sommer die Fenster offen standen. Und dann das Gitter, wo du nicht hindarfst. Da hab ich g´sagt: da will i hin. Das hat so etwas Verbotenes und Betörendes g´habt.

Dann haben Sie ein Volkslied vorgetragen und wurden aufgenommen.

Spannenlanger Hasel, nudeldicke Dirn! Ich war dann der erste Starsängerknabe, mit Namen genannt bei Aufnahmen.  Früher hätten´s mich wahrscheinlich kastriert. Okay, mein Vater wär´ dagegen gewesen, aber im 18. Jahrhundert, wer weiß … Ich hab bis siebzehn Sopran singen können, unzählige Male natürlich als Knabe in der Zauberflöte. Eigentlich bin ich Sänger geworden, weil ich den Papageno singen wollte! Des hat sich jetzt erfüllt, des fand ich lustig…

Nigl als Faustus in Pascal Dusapins Oper Faustus, the Last Night an der Opéra de Lyon.

Der Papageno ist ja nicht gerade eine gebrochene Figur.

Er ist unglaublich vielschichtig, wenn man nicht nur an der Oberfläche kratzt. Er bewahrt ja seine Unabhängigkeit und bekommt doch, was er sich erträumt: die Liebeserfahrung. Die ganze Vorstadttheatertradition ist drin. Eigentlich war der Schikaneder (Produzent, Librettist und Papageno in der Uraufführung der Zauberflöte) mehr Schauspieler als Sänger. Der ist zu Mozart hingegangen und hat g´sagt, i will an Blockbuster. I will Flugmaschinen, Kinder, Tiere auf der Bühne haben … Du bist als Papageno der Spielmacher, und das ist natürlich super. Papageno, Orfeo und Wozzeck sind meine Lieblingsrollen. Ein verliebter Trottel, sowas wie Romeo, das interessiert mich ned.

Haben Ihre Eltern den Berufswunsch unterstützt?

Mein Vater war total dagegen. Der war immer dagegen, da musste ich mit Qualität beweisen, dass ich das kann. Er war Schneider, die Oper war ihm fremd. Und er dachte, Künstler, das ist kein g´scheiter Beruf. Er war Handwerker auf höchstem Niveau, und dem versuch´ ich auch gerecht zu werden.

Sie sagten mal, sie hätten keine ›Rotweinstimme‹. Was ist denn das?

Ein satter Klang, meist abgedunkelt, den hab ich nicht. Ich kann den, aber ich singe viel rhetorische Musik, nicht die großen Partien von Wagner und Verdi mit ihren Legatobögen … diese Art von Gesang ist mir auch fremd. Wenn es aber wer wirklich kann, Chapeau!

Ihr Studium in Wien brachen Sie ab.

Ja, ich bin Professor mit Genieparagraph. (lacht) Mir war das zu schulisch. Da reden wir jetzt über was sehr Interessantes. Wir sind unglaublich kreativ als Kinder. Dann kommen wir in die Schule und da wird uns gesagt, eins und eins ist zwei. Das stimmt schon … – vermutlich! Zwei Giraffen könnten vielleicht schon drei sein, wenn die eine schwanger ist … Ich war immer einer, der gefragt hat. Und ich wollt´ spielen, auf die Bühne, Menschen begegnen! Wie ich an der Hochschule war, hab´ ich ja anderswo schon mit Harnoncourt zu tun gehabt, bei dem hab´ ich auf eine Frage hundert neue Fragen bekommen. Er sagte: ›Herr Nigl, machen Sie sich immer ein eigenes Bild!‹ À propos fake news … Da fielen mir die Schuppen von den Augen: Ich bin ja selbst verantwortlich!

Was hat Ihre Lehrerin Hilde Zadek, die jetzt fast hundert ist, mit Ihnen gemacht?  

Die Hilde, die Wilde, is mei Mama, die Mama von allem. Mama, Oma, Geliebte! Was ich sängerisch bin, verdanke ich ihr. Sie hat einem nicht irgendeine Technik aufoktroyiert, sondern mit den Möglichkeiten gespielt, die ein Mensch hat. Ich wurde ihr Schüler nach einem Wettbewerb, bei dem mir eine Zuhörerin gesagt hat: »Singen kennen´s ned, rufen´s die Zadek an, hier ist die Nummer.« Jetzt bin ich selbst Unterrichtender und sehe: Junge Menschen haben Angst, zu fragen.

Angst wovor?

Sie haben Angst, dass eine Frage ihre Nacktheit entblößt. Aber wenn der Mensch die Frage stellt, beginnt ja erst das Denken!

Eine blöde Frage zur zeitgenössischen Musik: Warum tun Sie sich das an?

(Zeigt ein Foto auf dem Smartphone) Pascal Dusapin und ich, fast a Liebesbeziehung! Das Angenehme mit neuen Stücken ist, dass es noch keine Referenzen gibt. Wenn der Tenor die Schöne Müllerin singt, haben 30 Prozent der Hörer noch immer den Wunderlich im Kopf. Die neue Musik ist nackt, blank, das find´ ich super interessant. Als ich 21 war, gab es am Burgtheater all die Skandale mit Bernhard und Peymann, da hingen die Plakate für Stücke von Handke und Turrini. Wenn du dann an die Staatsoper gegangen bist, war das modernste Stück Wozzeck, und ich hab´mich gefragt, was soll des jetzt? Vielleicht sitzt ein neuer Mozart irgendwo und ich würd´ dem gern begegnen! Nicht, dass er gleich für mich schreibt …

Mozart konnte sich noch auf eine gemeinsame Musiksprache in seiner Zeit stützen.

Ja, heute können die Sprachen sehr unterschiedlich sein, da bin ich auch irgendwann überfordert. Ich muss ja in die Welt, die der Komponist für sich erschaffen hat. Auch bei Monteverdi muss ich mich fragen, warum sind diese Töne jetzt da? Dasselbe habe ich in der zeitgenössischen Musik. Mit Dusapin und Rihm arbeite ich viel zusammen, weil ich ihre Musiksprache kenne. Bei Trojahn suche ich jetzt die connections. Ich hör´ die Wiener Schule heraus, aber auch Weill, Wienerlied, Chanson, und viel rezitativischen Gesang, der auskomponiert ist. Bevor es in Orests Erinnerung zum Mord kommt: Das ist in der Musik eigentlich der Anfang vom »Tatort«, ich muss den Trojahn mal fragen, ob das gewollt ist!

Georg Nigl singt Monteverdi: »Tu se’ morta« aus L’Orfeo; Inszenierung von Rinaldo Alessandrini am Teatro alla Scala, 2009

Wie ist es mit dem Publikum bei zeitgenössischer Musik?

Wir haben teilweise eine gute Situation. Dort, wo Menschen wie Rolf Liebermann, Klaus Zehelein, Alfred Wopmann oder Gerard Mortier Vorarbeit geleistet haben, einem Publikum die Möglichkeit gaben, sich zu interessieren. Die Relevanz von zeitgenössischer Musik, weltweit gesehen, ist natürlich … pfffff! Aber wenn ich mich mit Madonna vergleichen will, brauch´ ich nicht mit dem Nachdenken anzufangen. Wenn´s uns gelingt, die Leute in einen Diskurs zu bringen, dann wird man uns auch nicht abschaffen. Und ich möchte, dass sie einen gewissen Schokoladegeschmack bekommen, wenn man über neue Musik spricht, und sich denken: Das will ich mir anhören!

Und wenn sie nicht gleich wollen?

Es ist wichtig, dass man die Leute damit plagt. Man muss sie plagen! Alles, was gut ist und versucht zu erneuern, ist zuerst Avantgarde. Man muss den Stücken auch Zeit geben und sie überprüfen dürfen und können. Auf einmal kommt man darauf, dass Die Soldaten ein tolles Stück sind oder Lenz. Wenn ich etwas zum ersten Mal höre, habe ich ja auch keinen Anhaltspunkt. Wobei man die Frage danach auch mal an die Komponisten zurückschießen muss …

Es wird oft beklagt, dass an den Opernhäusern neben dem großen Repertoire die Musik der Gegenwart verkümmert. Sollte man für´s Neue mal ein paar Mozarts und Verdis weglassen?

Nein. Ich vertraue auch dem Erfolg. Ich find´s schön, wenn für eine tolle Zauberflöte die Leute Schlange stehen bis zum Bahnhof. Bei den neuen Stücken sehe ich eher eine große Gefahr darin, dass so viele Intendanten das ius primae noctis haben wollen, die Uraufführung. Da kommt das Feuilleton und dann nichts mehr. Aber mit Orest sind wir die vierten in sechs Jahren! ¶