Klassik-Grizzly

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Porträt eines Fans

Text · Fotos privat · Datum 1.2.2017

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»Guck mal, da ist wieder der Bär«, sagte meine Frau in der Philharmonie manchmal zu mir.

Mal ging er zu einem Stehplatz hinter Block C, mal suchte er sich einen freien Platz in Block A. Eine sehr auffällige Erscheinung: zwei Meter groß, gewiss über hundert Kilo schwer, imposanter geölter Vollbart, große Brille. Wenn ich mit meiner Frau im Konzert war, war er jedes Mal da. Wie die klitzekleine Japanerin, die jeder Philharmonie-Besucher kennt. Doch ein größerer körperlicher Kontrast als zwischen diesen beiden ist auf Erden nicht denkbar. Und er stand auch nie am Eingang mit einem Schild vor der Brust »Suche Freikarte«.

Jetzt ist meine Frau in der Babypause. Eine Pause für das Baby, aber leider auch eine Pause von der Philharmonie, solange das Baby gestillt wird.

Dafür habe ich das Vergnügen, in der Philharmonie den Bären kennengelernt zu haben.

Ungefähr dreimal pro Woche …

Weil wir uns ständig über den Weg liefen, sind wir irgendwann ins Gespräch gekommen. Und im Gespräch geblieben. Obwohl ich nicht weiß, wer er ist, meine ich zu ahnen, wer er gern wäre. Und so viel immerhin weiß ich: Der Bär heißt Stefan und ist der friedlichste, sanftmütigste Mensch der Welt.

Auch wenn er mich anlügt.

Denn er behauptet, er ginge nicht öfter ins Konzert als ich. Aber wenn ich hingehe, ist er immer in der Philharmonie. Gehe ich ins Konzerthaus, ist er da. Gehe ich in die Deutsche Oper, die Staatsoper, die Komische Oper, ist er da.

Er gehe vielleicht dreimal pro Woche, behauptet er.

Ungefähr.

Nur wenn es um die ewigen Störungen im Konzert geht, verliert Stefan seine Bärengemütsruhe: Huster, Röchler, Füßescharrer, Bonbonpapierknisterer, Programmheftblätterer bringen ihn zur Weißglut. Und vor allem Personal, das Zuspätkommende zur Unzeit in den Saal huschen lässt. Das Türenklappern! Das Trappeln! Wie oft hat er das schon bei Facebook getadelt, wie viele Beschwerden an Kundenservice und Intendanz geschrieben. Ein Kampf gegen Windmühlen, könnte man meinen, aber Stefan hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben:

Im Konzerthaus sollten sie mal eine Ansage zum Thema husten machen. In der Philharmonie funktioniert das manchmal ganz gut.

Noch grimmiger machen ihn künstlerische Fehlleistungen: allen voran Sänger, die nicht an das glauben, was sie singen, und Dirigenten, die über Sänger hinwegbrausen. Marek Janowski, den er ansonsten sehr schätzt, nehme zu wenig Rücksicht auf Stimmen. Donald Runnicles‘ Dirigate seien zu lasch und zu unpräzise. Christoph Eschenbach ist ihm ein rotes Tuch.

Und wenn ich einen sagen soll, den ich wirklich nicht ausstehen kann, einen von den »Großen«, dann ist es Simon Rattle. Die Berliner Philharmoniker bewundere ich meist eher, als dass es mich berührt. Wenn einer wie Blomstedt dirigiert, dann ist es schon großartig, weil da ein richtiger Mensch da ist. Aber wenn einer wie Rattle das Zeug so technisch durchrockt, das berührt mich nicht. Da merke ich: Okay, das ist zu schnell gegeben, zu laut gegeben, zu viel gegeben. Simon Rattle mag ich wirklich gar nicht. Obwohl ich manchmal Konzerte erlebt hab, wo es funktioniert hat für mich, ich hab auch schon mal eine Zweite Mahler gehört mit ihm, die ich toll fand …

Musikalischer Allesverschlinger

Aber das ist ein Zorn aus Liebe, aus Liebe zur Musik. Stefans eigenste Gefühlsregungen sind: Überschwang, Freude, Glück. Wenn er begeistert ist, und das ist er oft, dann bis ins letzte Barthaar und mit jedem Gramm seiner hundert Kilo. Er schwärmt vom Concertgebouworkest und den Wiener Philharmonikern. Und die Berliner Orchester? Sehr zufrieden, wirklich sehr zufrieden. Er liebt das DSO in fantastischen Momenten oder das klassisch-romantische Repertoire beim RSB mit dem großen, dunklen, »deutschen« Klang von Marek Janowski.

Und von der Frequenz der tollen Erlebnisse her, da sind es sicher Konzerte mit Iván Fischer. Wo ich merke, der macht eine Art von Musik, die mir einfach liegt. Wie er Musik macht, wie er Musik sieht. Und ich mag ihn einfach, ich finde ihn menschlich wahnsinnig toll. Ich saß hier gestern in der Zweiten Mahler und dachte: Ah ja, so geht das. Genau.

Und deshalb geh ich auch ins Konzerthaus! Trotz der Störungen. Trotz der widrigen Umstände und obwohl mir das Haus nicht gefällt. Und ich es mühsam finde, wenn ich mal woanders sitze … Ich sitze immer 2. Rang, 2. Reihe, Platz 58. Das ist am weitesten weg vom Orchester, wo es für mich, nach jahrelanger Erfahrung, am besten klingt. Und es ist auch so schön in der Ecke, wo ich mich ein bisschen wie in der Loge fühle. Wo ich für mich bin, nicht so unter den Leuten. In der Philharmonie sitze ich immer vor dem Orchester, gern in der letzten Reihe. Wo ich das Gefühl habe, ich bin ganz allein, allein mit der Musik … Außerdem kann ich nicht so lange sitzen.

Besondere Vorlieben: Alles. Denn auch darin gleicht er einem Grizzly, dass er ein Allesverschlinger ist, von Monteverdi bis Sciarrino. Er schätzt die historische Aufführungspraxis ebenso wie ätherische, irisierende oder dunkle Klänge der neuen Musik. Wenn sie den Hörer denn sinnlich anspringt, nicht nur theoretisierend. Wenn sie ihn berührt.

Aber die größte Liebe scheint er doch für jenes Repertoire zu empfinden, das seiner eigenen Physis entspricht: die dicken sinfonischen Brocken, das Überwältigende, das zugleich kunstvoll gebaut ist, wohlproportioniert auch im Exzess. Mahlers Zweite, Mahler überhaupt, Bruckner. So einen großen Strauss-Bums, das mag ich einfach, die Alpensinfonie. Und die Turangalîla-Sinfonie von Messiaen, mein Liebstes.

Und die Oper:

Wenn ich irgendein Lieblingsstück nennen muss, ist es für mich immer Elektra von Strauss. Das ist das Stück, wo ich am meisten Liebe, Leidenschaft, Hysterie erlebt habe in meinem Leben und wo ich auch Sängerinnen erlebt habe, die mir so imponieren. Gwyneth Jones! Oder Luana DeVol. Elektra ist die Oper, die ich am öftesten gesehen habe.

Woran ich auf dem Totenbett denken werde? Das sind schon einige Sachen, und es werden noch einige sein. Aber: Der Rosenkavalier mit Carlos Kleiber, 1990 in New York. Lott, von Otter, Bonney, Haugland, Hornik, Pavarotti.

Was wir sein wollen …

Eine Sucht. Als ich Stefan frage, ob es eine Sucht sei, stimmt er mir sofort zu. Körperliche Abhängigkeit. Die nervöse Unruhe, die quälende Frage, was man verpasst, wenn man einmal nicht hingeht. Was man jetzt, in diesem Moment, nicht hört.

Gerade deshalb kann es auch wunderbar sein, einmal nicht zu gehen. Wie ein Sieg über die Sucht? Seine Wohnung sei schön, sagt Stefan, der unter der Sucht nicht zu leiden scheint. Manchmal sei es auch einfach gut, wenn ein Konzert nachhallen könne. Vor kurzem war er mit seinem Freund im Potsdamer Nikolaisaal, beim Orfeo mit Christina Pluhar und L‘Arpeggiata, was wirklich ein atemberaubender Abend war, wo es noch eine Lounge gab, wo die improvisiert haben und Jazz gesungen. Wir sind um Mitternacht völlig beglückt da rausgehüpft. Und am nächsten Tag wäre mit dem Bundesjugendorchester Zweite Mahler gewesen, da wollte ich eigentlich hin und hätte auch von einer Freundin noch Karten gekriegt. Aber da hab ich gemerkt: Nee. Das will weiterklingen.

Und wenn er auch für die Musik lebt: Ein Einzelgänger ist Stefan nicht. Ein Wahnsinniger zweifellos, aber kein vor sich hin mümmelnder, verschrobener Klassik-Nerd. Er kennt tausend Leute, mit denen er ins Konzert geht: Musikfreaks, sporadisch Neugierige, professionelle Kritiker, hinreißende Sängerinnen, von denen er Karten bekommt, denen er Karten weitergibt, mit denen er Musik hört und diskutiert. Hat einen sympathischen Freund, einen jungen Franzosen aus Lyon, der als Eustache McQueer das Weltkulturerbe der queeren 80er hegt und pflegt.

Und er singt auch selbst, Stefan, der Bär:

Im Chor. Und ich nehme Gesangsunterricht, rudimentär, einmal in der Woche in der Musikschule Charlottenburg-Wilmersdorf bei einer Gesangslehrerin. Stimmlage Bass. Tiefer Bass. Aber ich glaube, ich wär gern Soubrette, vom Herzen her wär ich gern Soubrette. Ich höre ja auch am liebsten hohe Stimmen. Ein Koloratursopran oder leichte, hohe Tenöre, da geht mir das Herz am meisten auf, das ist für mich das Größte – das Gegenteil von dem, was ich bin.

… und was wir sind.

Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich ihn nie nach seinem Lebensweg gefragt habe und danach, wie er das alles bezahlt und was er eigentlich macht. Was man so eigentlich nennt, das Uneigentliche: beruflich.

Hole ich es also nach: Er arbeitet in einem Start-up, bei einem Vergleichsportal. Da kommt er früh genug raus, um ins Konzert zu gehen, in die Oper. Oft mit Steuerkarten, vergünstigten Karten von Freunden, Bekannten, aber vor allem mit Abos. (Ein Loblied auf das Abo wäre mal zu singen, auch auf die vielgeschmähten Abonnentinnen und Abonnenten, über deren borniertes, rücksichtsloses Verhalten Stefan oft flucht.)

Ins Geld, also, gehts schon.

Österreicher ist er, geboren vor 46 Jahren in der Schweiz. Weder den Ösi noch den Schweizer hört man ihm an. Kam als Kind über die Märchen von Star Wars zu den Märchen von Richard Wagner. (Wagner als Initiation: Da muss man nicht Thomas Mann lesen, um zu ahnen, dass etwas Maßloses herauskommen muss.) Hat in Bern in einem Plattenladen gearbeitet, wo die ganz junge Patricia Kopatchinskaja oft vorbeikam. Lebte eine Weile in New York, wo man es sich einmal im Jahr leisten kann, in die Met zu gehen. Gewann dann vor sechzehn Jahren im Preisausschrieben einer Plattenfirma eine Reise nach Berlin – und blieb. Auch wenn es ihn manchmal ärgert, wie Berlin sich für den Nabel der Welt hält, auch in musikalischen Dingen. Etwa wenn man sich hier feiert, man habe eine völlig unbekannte MartinůOper oder ein gänzlich vergessenes Händel-Oratorium »ausgegraben«, was in Wahrheit außerhalb Berlins schon hundertmal ausgegraben wurde.

Aber das ist ja unwichtig: wer oder was wir sind. Es verrät mehr über uns, wer oder was wir gern wären. Und da ist sie: die Vision, die Hoffnung, durch Kunst verwandelt zu werden, durch Musik, in Musik.

Ja, das kann geschehen. Vielleicht durch Mahlers Zweite.

Es geschieht, immer wieder. ¶