Kölner Utopie

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Anna Halprin ist die Postmoderne-Pionierin der Herzen. In Köln wird ihr »Werk« City Dance in neuer Form aufgeführt, einen Tag lang, in der ganzen Stadt, und du solltest dabei sein.

Text · Interscripts artmannduvoisin · Datum 31.8.2016

Dies ist nicht »Deutschlands größtes Tanzensemble«. Hier geht es nicht darum, dass Laien einmal Profis sein dürfen. Dies ist kein Pop-Up-Event, das später gut auf den Videoclips für Social Media aussehen soll. Kein Rekord, kein »Mob«, keine Sensation, keine Stars zum Anfassen. Was auch nur bedingt funktionieren wird, obwohl das Ganze in Köln stattfindet: die jecke Verbrüderung auf der Grundlage der drei bis zehn Kölsch, die die eigene Skepsis, Unsicherheit, alltägliche Traurigkeit, persönliche Situation für kurze Zeit ausschalten.

Fountain Dance in Halprins City Dance 1979 • Foto © Buck O’Kelly
Fountain Dance in Halprins City Dance 1979Foto © Buck O’Kelly

»All the folks in our city […] have the capacity to experience their lives as a dance«, das hat Anna Halprin gesagt. Anna Halprin ist die Tänzerin und Choreografin, die wie wenige Menschen in den letzten 80 Jahren gleichzeitig einen breiten Einfluss auf die Avantgarde der Kunst mit politischen Aktivismus und einer Art von Spiritualität miteinander verbunden hat, die man auch als positiven Menschenverstand oder Liebe zu allen Lebewesen bezeichnen könnte.

Wenn in Köln am Samstag im Rahmen der Kollaborationen zwischen Beethovenfest Bonn und der Kölner Philharmonie um halb sieben morgens der City Dance beginnt, ein Weg, der insgesamt 12 Wegabschnitte und Stationen enthält, von den Wiesen der Vorstädte über den Rhein, durch Gerichte, Parks und Straßen führt und schließlich auf dem Bahnhofsvorplatz endet, wenn das Sinfonische Blasorchester Köln, Sambatrommler- und Synchronschwimmer/innen, das Asasello-Quartett und das Ensemble Garage, der Polizei-Frauen- und der Schwullesbische Chor Köln und viele, viele weitere Ensembles, Tänzer und Chöre – Kinder und Alte, Laien und Profis – in Aktion treten, dann geschieht das im Geiste von Halprins Werk City Dance San Francisco.

»Alle Leute hier in der Stadt besitzen die Fähigkeit, ihr Leben als Tanz zu erfahren«, das hat Halprin auf einem ihrer unzähligen Workshops gesagt, die dem ersten City Dance in San Francisco vorausgingen, das war 1976. Ein paar Anweisungen und Abläufe hat sie in den Zeitungen der Stadt abdrucken lassen. Aber »die Notation ist nur das Mögliche, das Unmögliche passiert in der Performance«, das ist eines ihrer Credos. So kommt die Utopie in die Kunst.

Foto © Martin Eberle
Foto © Martin Eberle

Das Bild oben zeigt die damals 95-jährige Anna Halprin mit (v.l.n.r.) Stephanie Thiersch, Bettina Buck, Brigitta Muntendorf. Die Choreografin, die Bildende Künstlerin und die Komponistin sind zu ihr nach San Francisco gefahren. Vielleicht kann man die Reise weniger als künstlerische Instruktion verstehen, denn als Abholen des Segens, etwas Neues auf die Beine zu stellen, eine neue Mischung aus (1) einigermaßen abgeschlossenen Kompositionen und Choreografien, (2) den teils veränderten, teils parallel stattfindenden Darbietungen von Musik- und Tanzensembles und (3) drittens: offene Situationen.

Der ursprüngliche City Dance sollte einen kollektiven Prozess der Heilung des von Rassenunruhen aufgeheizten San Francisco bewirken, war eine Reaktion auf die Ermordung des Bürgermeisters George Moscone und des Stadtrats Harvey Milk, einer Bürgerrechtler-Ikone Schwulen- und Lesbenbewegung. Im Kölner Filmforum, wo ein paar Tage vor dem City Dance Dokumentarfilme gezeigt werden, destilliert die Dramaturgin Kirsten Maar das Prinzip des Innehaltens als politisch wirksame und übertragbare Geste des City Dance heraus. Protest als Unterbrechung, Kirsten Maar erwähnt den Protest des Erdem Gündüz am Taksim-Platz Istanbuls. Andere Felder tauchen auf, die eine Änderung gebrauchen könnten. Was kann der City Dance bewirken, wie klingt er?

Wir haben Brigitta Muntendorf zum Interview getroffen, sie ist gut drauf, obwohl es rund geht. Kurz vor Start des Projektes brechen die Zuständigkeiten ein, jeder muss alles machen, trotz 30-köpfigem Organisationsteam.

VAN: Hattest du in deiner Arbeit zuvor schon Projekte mit soviel Unwägbarkeiten und organisatorischem Aufruhr?

Brigitta Muntendorf: Nein; das ist ja mein erstes Community-Projekt, sonst arbeite ich ja schön ordentlich für Festivals, Konzerthäuser und Musiktheater. Aber es ist super, gestern nach der Probe sind alle stimmungsmäßig total ausgeflippt. Man kriegt schon viel zurück.

interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com
interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com

Wie lang ist die Partitur?

So 60, 70 Seiten. Ich habe noch nie so wenig Partitur für eine solche Dauer (der City Dance geht 12 Stunden, d.Red.) geschrieben. Mein letztes Stück, das eine dreiviertel Stunde lang ist, hatte eine Partitur von 300 Seiten. Aber ich kann hier ja nicht so detailliert schreiben, und wenn es Stücke sind, die die Gruppen selber einbringen, dann steht da nur eine Seite mit einer Anleitung.

Was ist als Rahmen oder Vorgabe von Anna Halprin vom originalen City Dance noch drin?

Ich glaube, das sind hauptsächlich einzelne Elemente, wie der Planetary Dance, der im Rheinpark stattfindet. Der ist ein Symbol für dieses gemeinschaftliche Agieren und diese Begegnung, die Halprin mit dem City Dance schaffen wollte.

Man kann das aber insgesamt nicht eins zu eins übertragen, denn ganz viel von dem, was sie macht, würde hier ganz schnell als esoterisch und ausdruckstanzmäßig verstanden werden. Da arbeitet auch Stephanie Thiersch als Choreografin ganz anders. Hier im modernen Tanz, wie wir ihn in Deutschland und Europa kennen, kann man das nicht mehr machen, das ist zum Teil eine Selbsterfahrungsgeschichte der 1960er.

Anna Halprin trägt diese Zeit in sich, sie trägt diese Zeit weiter, und wenn man zu ihr fährt, dann sieht es immer noch so aus wie damals. Aber es funktioniert, sie heilt damit ja auch Menschen, das ist eine ganz andere Ausrichtung als ein rein künstlerisches Projekt.

Rein künstlerisch ist euer Projekt aber auch nicht angelegt, oder?

Nein, aber es ist erst mal der Anspruch. Wir wollen Profis und Laien zusammenzubringen, um diese künstlerischen Erfahrungen zu machen. Das andere haben wir ja schon mit dem Karneval in Köln, das brauchen wir nicht noch mal.

interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com
interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com

Was brauchen wir dann?

Das hat Anna Halprin uns als allererstes gefragt, als wir bei ihr waren, was braucht Köln eigentlich? Bei ihr ging es damals um die Rassenunruhen, darum, Schwarz und Weiß zusammenzubringen, das verhärtete Bürgertum aufzubrechen. Was wir herausgearbeitet haben, ist: Toleranz, Vielfalt, auch angesichts der Migrationsbewegungen.

Flüchtlinge sind auch Teil des Projektes, oder?

Das Kölner Flüchtlingszentrum Fliehkraft ist dabei, die haben mit dem Bürgerzentrum Nippes und dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz hier in der Nähe vom Eigelstein eine Station, wo sie den Zug begrüßen. Da sind auch die Anwohner dabei, die machen die Radios an, die Fenster auf und daraus kommt dann die Musik.

Bei der Diskussion im Filmforum ging es auch um die Silvesternacht auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz …

… ja, nach der Silvesternacht war klar, dass wir nicht auf die Domplatte, sondern auf den Bahnhofsvorplatz gehen wollen mit der Abschlussveranstaltung.

interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com
interscript city dance – Elsa Artmann und Samuel Duvoisin begleiten ausschnitthaft zeichnerisch die Prozesse der einzelnen Gruppen in der Vorbereitung zum City Dance Köln.interscriptcitydance.wordpress.com

Und was soll da passieren, wie soll diese ›Umwertung der Energien‹, von denen die Rede war, stattfinden?

Wir wünschen uns, dass viele mitmachen, ich will den Platz mit den Musikern komplett zum Klingen, zum Vibrieren bringen, mit ihren Leuten und denen, die zuschauen. Es gibt ja dieses Tutorial zu diesem Flash Dance, dem Dance for All, der läuft fünf mal und danach legt der DJ noch mal auf, um die Stimmung weiterzuführen, um die Leute zum Tanzen zu bringen, da müssen wir spontan reagieren.

Dies ist das Video-Tutorial zum Tanz am Bahnhofsvorplatz.

Und dann gibt es eben diese andere Art der Partizipation, die einfach darin besteht, eine Erfahrung zu machen.

Ja, es gibt ja auch noch diese Demo der Kinder, wo sich die Leute auch beteiligen können, der Demotext besteht nur aus ›aspirer‹ / ›respirer‹, und im Lied singen die Kinder ›Hold on. Differenz Eyes, Differenz World‹, das ist eine Abwandlung von dem Blank Placard Dance von Anna Halprin.

Beziehst du dich künstlerisch und in deiner Arbeitsweise auf die Zeit des City Dance oder auch die Szene um Cage/Cunningham?

Ich habe das eher so auf diese Idee der offenen Scores übertragen, diesen Aspekt, nicht alles vorherzubestimmen in meiner Arbeit. Was nicht so einfach ist, denn meine Arbeit ist es, Noten auf ein Blatt Papier zu schreiben. Ich habe mir auch noch einmal viele der Partituren von Cage angeschaut, aber nicht benutzt. Eine gewisse Offenheit ist gut, aber dieses ›Es ist alles egal‹, diese Form der Radikalität ist historisch.

Diese Art der Selbsterfahrung, die damals mitgeschwungen hat, ist für mich im künstlerischen Kontext nicht mehr so interessant. Ich finde diese Haltung, nicht kritisch an Dinge ranzugehen – nichts zu bewerten, alles da sein zu lassen – als eine Art Lebensprinzip total gut, aber künstlerisch nicht förderlich, da muss man manchmal auch krassere Positionen zu beziehen, um Dinge anstoßen zu können.

Was anstoßen, zum Beispiel?

Na ja, manchmal kann man jemanden nur durch radikale Performances aufwecken, sensibilisieren, auch wenn das in meiner Arbeit gar nicht so oft eine Rolle spielt. Und ich glaube Radikalität allein bringt die Kunst heute nicht weiter, das ist zu sehr mit der Suche nach dem Neuen verbunden. Das kann man ja auch bei Boris Groys lesen, dass die Suche nach dem Neuen eben nichts neues mehr ist. Ich glaube man muss heute kontextorientierter arbeiten und Sparten mehr verbinden.

Und Anna Halprin war damals ja auch radikal.

Seit Anfang der 1960er Jahre versammelte Halprin auf ihrem legendären Tanzboden im Freien Künstler/innen Yvonne Rainer, Merce Cunninghman, Trisha Brown, Komponist/innen wie Meredith Monk, LaMonte Young. Über ihre Schüler/innen und Werke nehmen Arbeiten von John Cage und Robert Rauschenberg auf sie Bezug.

Anna Halprin gilt auch als Erfinderin des Postmodern Dance, und der ist Gegenstand und Inspiration des Programmes Kollaborationen, die, veranstaltet von der Kölner Philharmonie und dem Beethovenhaus Bonn gerade stattfindet. Die Aufführung von Laurie Andersons und Deborah Hays Ballett Figure a Sea machte den Auftakt. Was kann Postmoderne noch heißen? Hier war eine aufgeladene, unsichtbare Substanz zu spüren, die das Feld der Tänzer/innen miteinander verband, Ruhe in die flirrende, rauschende Komposition von Laurie Anderson brachte, Tanz und Musik entstehen ließ, wo nichts klang, wo Rhythmus und Choreografie nicht ohne weiteres auszumachen waren. Immer mehr übertrug sich die gespannte Aufmerksamkeit auf das Publikum, das nicht hätte sagen können, worum es hier ging.

Und wie kann der City Dance etwas anstoßen?

Stéphanie und ich hatten vor zwei Jahren die Vorstellung, dass ich mit ihr für jede Station Stücke schreibe und damit mit den Gruppen arbeite. Schließlich haben wir gemerkt, dass man mit Laien nicht so arbeiten kann. Wir musste uns zurücknehmen und haben dann gesagt, dass wir der Stadt ein Geschenk machen wollen, und dann wurde es zu unserem Ziel, kreatives Potenzial zu nutzen und das Köln zu zeigen. Wie mit dem Chor unter der Brücke, dass man da durch die Landschaft geht und sieht, so was ist möglich.

Ich finde es grundsätzlich schwierig, Leute aktiv einzubeziehen, weil man da künstlerisch Abstriche machen muss. Und es gibt im ganzen Verlauf auch nichts, was mit dieser strammen Unterhaltungskultur zu tun hat, ›seid jetzt happy‹ oder seid so und so. Dieses Ad-Hoc-Mitmachen das existiert für mich nicht, ich bin da selber ein totaler Phobiker. ¶

Quellen