Stigma Kuckuck

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Hameln, diese schlanke Kleinstadtidylle. Bedächtig und angepasst, lieber leise als laut – und dabei so normal wie sonderbar. In ihren Straßenzügen gehen Menschen ihrem Alltag nach, streben nach dem kleinen oder großen Glück. Wir haben sie getroffen. Für das Porträt einer Straße – und eine neue Dewezet-Serie. Im siebten Teil der Kuckuck.

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Ein Blick in die Straße

Idyllisch könnte es sein am Kuckuck, eingerahmt von der Hamel, die um die Kuckuck-Häuser auf der einen Seite einen Bogen schlägt, und den Bahngleisen. In den letzten Jahren ist das Viertel jedoch immer mehr als Problem-Viertel in Verruf geraten. Was ist dran an dieser Einschätzung, was sagen die Anwohner? Folgen Sie uns zum Kuckuck!

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Die Klingel ist abgestellt

Dieter Wüstenfeld wohnt fast seit 50 Jahren am Kuckuck

Seine Klingel hat Dieter Wüstenfeld abgestellt. Damit die Kinder ihn nicht nerven. Die Klingel ist die einzige funktionierende am Haus. Auf vielen Schildern steht gar nichts, deutsche Namen sind selten.

Der 74-Jährige wohnt seit 1968 am Kuckuck.

Foto: nin
Foto: nin

Wäre es einfacher, würde er längst in Rohrsen wohnen, in der Nähe seines Kyffhäuservereins. Aber am Kuckuck ist schon lange nichts mehr einfach. Seit sich die HWG 2006 von 190 Wohnungen trennte, wurde das Gleichgewicht, das nie ganz austariert war, zunehmend labiler. Und seit Zuwanderer aus Rumänien den Kuckuck für sich entdeckt haben, ist es aus der Sicht einiger gänzlich in Schieflage. Vor allem die Blöcke, in denen viele Roma-Familien wohnen, werden kritisch beäugt. Die Roma bleiben meist unter sich.

Und so soll es bleiben, wenn es nach Dieter Wüstenfeld geht. Ihm reicht, was er sieht. Viel Müll auf der Straße und im Keller, der sich wie von Zauberhand erneuere, sobald er abgeholt sei. Ein verdreckter Spielplatz – oder was davon übrig ist – Graffitis im Hausflur, immer wieder Razzien und Lärm.Wüstenfeld erinnert sich lieber an die Zeit, als die Hausbewohner auf dem Dachboden Partys gefeiert haben. „Die in den oberen Etagen haben ihre Toiletten zur Verfügung gestellt“, sagt er und lacht. Auf dem Rasen wurden Tischtennis, Völkerball und Fußball gespielt. Das war in der Zeit, als der gelernte Klempner und Installateur als Vize-Hauswart kleinere Reparaturen im Haus ausführte und jeder Mieter die Schlüssel vom Nachbarn hatte.Nun wohnt in der Wohnung gegenüber niemand mehr, die Tür ist nur angelehnt, Wände und Boden sind verdreckt. „Geht nicht da rein“, sagt Wüstenfeld, „da haben Hunde hingemacht“. Das gleiche hätten einige Bewohner im Hausflur erledigt.

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Leere Wohnungen werden für Partys, Drogenkonsum oder zum Schlafen benutzt – das sei nichts Besonderes am Kuckuck, sagt ein Mitarbeiter der Firma, die den Auftrag hat, Rasen zu mähen und den Müll zu entsorgen. Seit der letzte Besitzer der Häuser, die German Real Estate Investment Solutions GmbH, einen Insolvenzantrag gestellt hat, steht der Großteil unter Zwangsverwaltung. „Türen von solchen Wohnungen werden immer wieder eingetreten.“ Die neben Wüstenfelds sei längst nicht die schlimmste. „Es ist ein ständiges Gegen-an-Arbeiten.“ Aber es sei besser geworden. Man habe sich arrangiert. Die Mieter räumen nun auf, bevor die Firma kommt und mäht.

Ein Umschlagplatz für Gebrauchtwaren

Mathias Rübe – Der Schrotthändler vom Kuckuck

Mathias Rübe weiß, warum aufgeräumt wird, bevor die Reinigungsfirma kommt. „Der Kuckuck ist der größte Umschlagplatz für Gebrauchtwaren – Fernseher, Kühlschränke Fahrräder – einfach alles gibt es hier“, sagt der 49-Jährige. Vor allem am Wochenende. Neben den Lkw, die bringen und abtransportieren, gebe es auch Schaulustige, die extra zum Kuckuck kommen, um zu filmen und zu fotografieren. Schrotthändler Rübe wohnt seit 1982 am Kuckuck. Er und ein großer Teil seiner Familie. Wegziehen würde er nie. „Warum auch? Ich wohne schon so lange hier!“ sagt Rübe. Er zeigt mit beiden Daumen auf die Brust: „Ich bin selber Zigeuner“, sagt er nicht ohne Stolz. „Aber wir gehören zu den Sinti, und wir haben uns angepasst.“

Mit den neuen Nachbarn möchten Rübes nicht in einen Topf geworfen werden. Für die Leute in den Häusern 7 bis 11 hat er nicht viel übrig. Auch nicht für die Partys mit Gästen, deren Autos Kennzeichen aus diversen Großstädten tragen und noch weniger für die Dame im schwarzen Mercedes, die regelmäßig komme und „die Miete abkassiert“. Niemand wisse genau, wie viele Menschen in den drei Blöcken wohnen und wie lange sie bleiben.  

„Dafür, dass an so viele vermietet wird, können die nichts“, sagt der 49-jährige Rübe über die Nachbarn. Ein bisschen Mitleid hat er schon. Nicht alle seien schlecht und der Staat lasse diese Menschen allein, sagt Rübe, zieht an seiner Zigarette und schaut nachdenklich rüber zu den Blocks, wo Roma-Frauen auf einer ausrangierten Polstergarnitur zwischen den Häuserblöcken im Sonnenschein sitzen. Jungen und Mädchen spielen dazwischen oder mitten auf der Straße.

Die rumänischen Zuwanderer

Die Stadt weiß zumindest den offiziellen Stand der rumänischen Zuwanderer am gesamten Kuckuck: Momentan sind 94 gemeldet.

Eine von ihnen ist Livia Pitigoi. Mit einem kleinen Strohbesen fegt sie den Dreck vor der Wohnungstür weg. Es fällt der 29-Jährigen schwer, sich zu bücken, sie ist hochschwanger und dabei doch gertenschlank. Sie bekommt ihr viertes Kind und wohnt in einem der „Problemblocks“. Ihr Mann hat einen 450-Euro-Job, eine Festanstellung sei ihm versprochen worden. Sie fühlt sich wohl am Kuckuck, mit den Nachbarn habe es nie Streit gegeben. Sie möchte Deutsch lernen, doch wohin mit den Kindern? Vor allem mit dem ältesten Sohn sei es schwierig, er wolle nicht woanders bleiben, habe Angst. Ihr größter Wunsch: „Eine stabile Situation für meine Familie.“

Mihaela Petrovici lebt mit ihrem Mann Ovido seit September 2014 am Kuckuck. Er hat einen Job bei Petri-Feinkost in Ottenstein und bemüht sich ebenso wie seine Frau, die deutsche Sprache zu erlernen. Er gibt zu, dass ihm das nach einem langen Arbeitstag manchmal schwerfällt. Beide kommen ebenfalls aus Rumänien. Aber die Petrovicis grenzen sich ab von ihren Landsleuten. Es gebe zu viele davon am Kuckuck, deshalb würden sie lieber woanders wohnen – auch wenn ihnen der hintere Teil eigentlich gut gefällt. Sie haben als eine der wenigen am Kuckuck das Beet vor dem Mietshaus bepflanzt.

Kämpfen und reden – nicht aufgeben!


Margarethe Hölzel will ein Vorbild sein

Ein bisschen verrufen war der Kuckuck schon immer, denn die Stadt hatte schon Anfang der 70er Jahre „die von der Pumpstation“, wie kinderreiche Familien aus der Nordstadt im Quartier genannt wurden, dorthin umquartiert. Auch Margarethe Hölzel erinnert sich daran. Aber das Viertel konnte das immer kompensieren, sagt sie, so wie die meisten. Ebenso den Zuzug vieler Gastarbeiter und die Umquartierung von Obdachlosen an den Kuckuck. Wenn Hölzel ihrem Sohn heute erzählt, dass sie das Eigenheim möglicherweise verkaufen will, werde er traurig – der Wahl-Hamburger liebe den Kuckuck. Die Hölzels sind eine von acht Familien, die eine Eigentumswohnung dort besitzen. Sie wohnen in zwei großen Häusern am Rande der Siedlung. Die Blöcke wirken wie Fremdkörper: gepflegte Vorgärten, Carports, heile Zäune, bei Hölzels blüht ein Meer von Stiefmütterchen rund um den Balkon.

Foto: doro
Foto: doro

Die Angst des Sohnes indes scheint unbegründet: Verkaufen ist am Kuckuck genauso schwierig wie wegziehen. Wer hier wohnt, trägt ein Stigma. Hören Vermieter, woher der Bewerber kommt, winken sie ab. Davon können viele Bewohner am Kuckuck ein Lied singen. Sie erzählen nicht gern, woher sie kommen – auch nicht der Zeitung. „Ich will nicht, dass die Leute wissen, dass ich hier wohne“ ist ein Satz, der an diesem Tag oft fällt.

Weil das so ist, hat Margarethe Hölzel sich entschlossen, zu kämpfen. Sie geht regelmäßig zu den Treffen in der Begegnungsstätte „Kuckucksnest“, in der gerade der Jugendtreff Zak aufgebaut wird und hilft, wo sie kann.

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Die resolute Rentnerin, die früher als Intensiv-Krankenschwester im Sana-Klinikum gearbeitet hat, hat sich fest vorgenommen, den Zuwanderern deutsche Tugenden nahezubringen. Im Gegensatz zu einigen anderen Alteingesessenen hat sie keine Angst, – egal zu welcher Tageszeit – die Leute auf Missstände hinzuweisen. „Bedroht wurde ich noch nie“. Angst davor, bestohlen zu werden, habe sie auch nicht. „Ich habe mein Auto auch schon mal vergessen abzuschließen, da ist gar nichts passiert. „Ich kenne das Gefühl, als Flüchtling außen vor zu stehen“, sagt die 64-Jährige, die 1965 mit ihrer Mutter an den Kuckuck gezogen ist, die nebenan in der Noltemeyerschen Villa für die Mutter von Elsa Buchwitz im Garni-Hotel gearbeitet hat.

Manchmal fruchtet ihr Vorbild, und der eine oder andere nimmt auch einen Besen in die Hand oder pflanzt Blumen. Es sind Ausnahmen, gibt sie zu. Und es gibt Rückschläge. Zum Beispiel die Sache mit der wöchentlichen Kleiderausgabe im Kuckucksnest. Wo sich bis vor kurzem Dutzende einfanden, kommen nur zwei bis drei – weil die Ausgabe nun an einen Deutschkurs gekoppelt ist.                              

Wenn alles nichts hilft, hilft nur noch Plan B, sagt Hölzel: Alles abreißen und der Straße einen neuen Namen geben. Bisweilen ist Hölzel schon genervt, wenn Bekannte sagen: „Mensch, was ist denn bei Euch wieder los?“ So schlimm, wie der Kuckuck oft dargestellt werde, sei es nicht. Auch wenn andere etwas anderes sagen, Margarethe Hölzel glaubt daran, dass sich etwas bewegt. Bis es gut oder zumindest besser ist, wird sie weitermachen, Müll aufsammeln und reden, reden, reden.

“Hier macht jeder, was er will”

Foto: nin
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Gabriele und Frank Rehse würden gerne wegziehen

Mit den Zuwanderern reden wollen Gabriele und Frank Rehse nicht. Sie haben wenig Hoffnung, dass sich etwas ändert – auch nicht mit dem neuen 1,4 Millionen Euro schweren Projekt aus dem Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“. Seit 28 Jahren wohnen sie Am Kuckuck und, ja, verrufen war es wohl schon von jeher. Aber Rehses haben sich immer wohlgefühlt, aufgehoben in der Gemeinschaft. Seit ungefähr zwei Jahren sei das anders. Sie würden lieber heute als morgen weg, fühlen sich nicht mehr sicher. „Hier macht jeder, was er will“, sagen sie. Abends bleibt den beiden Frührentnern jetzt häufig nur der Fernseher.

Gabriele und Frank Rehse fühlen sich nicht mehr wohl am Kuckuck. Foto: nin
Gabriele und Frank Rehse fühlen sich nicht mehr wohl am Kuckuck. Foto: nin

Inzwischen ist es ruhig geworden am Kuckuck. Nur bei vor den Blocks 7 bis 9 spielen die großen und kleinen Kinder noch gemeinsam auf der Straße. In den Wohnzimmern flimmern Filme über die Mattscheiben bei den Alteingesessenen ebenso wie bei den neuen Nachbarn.Eine Satelliten-Schüssel hat dort fast jede Wohnung. Nur bei Dieter Wüstenfeld bleibt die Glotze aus. „Fernsehen habe ich abbestellt – das bekomme ich alles live auf der Straße“, sagt er. Zumindest dann, wenn er sich hinaustraut.

Die Geschichte der Straße

In den 30er Jahren entstehen am Kuckuck die ersten Häuser im Rahmen des Volkswohnungsprogrammes. 18000 Reichsmark beträgt das Darlehen damals. 1962 fällt der Beschluss, dass Hameln und Rohrsen zusammenwachsen sollen. Eine Siedlung mit Wohnblöcken soll entstehen, eingebettet in Grün und abgeschottet gegen Industrieanlagen und Bahngelände. Insbesondere Beschäftigte der Hamelner Industriebetriebe sollen hier eine günstige Wohngelegenheit finden. Günstig ist die Lückenschließung auch, weil Rohrsen mit an das Hamelner Kanalnetz angeschlossen werden kann. 1964 werden vier Häuser der GWG für AEG- und OKA gebaut, für Reintjes folgen acht. Insgesamt werden von der GWG 161 Wohnungen errichtet. 1967 fordern Bürger einen Lebensmittelladen – und bekommen ihn.

Der Kuckuck in Zahlen

                                
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Ein Multimedia-Projekt der Dewezet

© 2015 Deister- und Weserzeitung Hameln

Text: Dorothee Balzereit

Fotos: Dorothee Balzereit, Nina Reckemeyer

Historische Fotos: Stadtarchiv Hameln

Video: Nina Reckemeyer 

Multimediale Aufbereitung: Nicole Trodler