Quadratur des Kreises

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Wohin mit den Rundfunkorchestern?

Text · Titelbild Wero (CC BY-SA 3.0) · Datum 13.1.2021

In die Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden zunehmend auch dessen Klangkörper hineingezogen. Hartmut Welscher hat in einer umfangreichen Recherche mit Musiker:innen und Verantwortlichen der Rundfunkorchester gesprochen. Dort weiß man, dass man sich positionieren muss, bevor es zu spät ist. Nur gibt es viele unterschiedliche Auffassungen davon, wie das passieren sollte.

Start-ups nutzen Bewerbungsverfahren gerne dafür, die Problemlösungskompetenz der Bewerber:innen zu prüfen, indem Fragen gestellt werden, auf die man selbst noch keine Antwort gefunden hat. Ähnlich dachte wohl auch der WDR, als er im Frühjahr 2020 in der Ausschreibung für die Leitung des Orchestermanagements beim rundfunkeigenen Sinfonieorchester neben Lebenslauf und Motivationsschreiben ein einseitiges Konzeptpapier einforderte. Thema: ›Welche Aufgaben hat das WDR Sinfonieorchester in der heutigen (Medien)welt‹?

Von der Beantwortung dieser Frage wird mehr abhängen als nur eine Jobzusage. Noch tauchen in der Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk dessen Klangkörper zumeist nur als Randnotiz auf. Musiker:innen und Verantwortliche der Rundfunkorchester machen sich aber keine Illusionen darüber, dass auch sie zunehmend in deren Fahrwasser hineingezogen werden, unabhängig davon, ob die Beitragserhöhung nun kommt oder nicht. »Wir werden alle ein echtes Thema kriegen«, meint ein Orchestermanager. »Und ich glaube tatsächlich, dass es alle treffen wird.«

Bislang kommt der Druck auf die Rundfunkorchester weniger aus der Öffentlichkeit als aus den Rundfunkanstalten selbst. Die Orchester wirken dabei bisweilen wie Fremdkörper im eigenen Haus. »Es gibt im Sender keinen Plan, was man mit dem Orchester anfangen soll, keine Vision, kein Narrativ«, so ein Musikredakteur. Das liegt auch daran, dass die Hörfunkdirektor:innen und Abteilungsleiter:innen, die über die Klangkörper bestimmen, nicht immer diejenigen sind, die damit am meisten anfangen können. Personalentscheidungen werden oft nach dem Rochadeprinzip getroffen. Plötzlich ist eine fürs Marketing zuständig, die vorher Programmheftredaktion gemacht hat oder ein Alte-Musik-Experte arbeitet für die Big Band. Die meisten Rundfunkorchester haben keine eigenen Verantwortlichen für Social Media oder Marketing, stattdessen sind diese in einer zentralen Abteilung im Sender aufgehängt, was zielgerichtete Kampagnen erschwert. »Die wissen dort gar nicht, was unser Produkt ist«, sagt ein Orchestermusiker. »Man arbeitet sich an Strukturen ab, während sie bei der städtischen Orchesterkonkurrenz viel schneller und agiler arbeiten können.« »Eine zentrale Marketing- und PR-Abteilung macht es in einer Sendeanstalt mit sehr vielen unterschiedlichen Angeboten und Bedürfnissen nahezu unmöglich, jedes einzelne Konzert angemessen und zielgenau zu bewerben«, sagte Siegwald Bütow, damals noch Orchestermanager beim WDR Sinfonieorchester, im März 2020 gegenüber VAN. Neben dieser strukturbedingten Erschwernis mangele es auch an den personellen wie budgetären Ressourcen. »Das kann durch die On-Air-Berichterstattung über Konzertaktivitäten auch nicht vollständig kompensiert werden.«

Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)
Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)

Für internen Legitimationsdruck innerhalb der Rundfunkanstalten sorgen auch die unterschiedlichen Gehaltsstrukturen zwischen Orchester und den Redaktionen. »Wenn in Redaktionen, bei der Technik und in der Verwaltung Personal reduziert wird und Budgets kleiner werden, ist klar, dass der Rotstift an den auch im internen Vergleich sehr gut bezahlten Musiker:innen und an der Ausstattung des Orchesters nicht vorbeigehen kann«, so Bütow. »Ich nehme die Spannungen nicht jeden Tag in Form von Beschwerden, aber atmosphärisch wahr«, sagt Nikolaus Pont, Orchestermanager beim BR Symphonieorchester. Viele Orchestermusiker:innen beschweren sich wiederum hinter vorgehaltener Hand über mangelndes Commitment und fehlende Anerkennung. »Unser neuer Chefdirigent Cristian Măcelaru wollte mit Tom Buhrow sprechen. Ihm wurde ein Termin in einem halben Jahr angeboten«, sagt ein Musiker des WDR Sinfonieorchesters. Der Kostendruck, der auf den Rundfunkanstalten lastet, verstärkt das Misstrauen auf beiden Seiten. Die Sender müssen sparen und digitaler werden, ein Orchester hingegen ist teuer und analog. In den letzten Jahrzehnten wurde bei den rundfunkeigenen Klangkörpern kontinuierlich fusioniert und restrukturiert, Personal im Management gestrichen, Etats für die künstlerische Planung reduziert, Planstellen abgebaut, Gehälter eingefroren. Darunter leidet auch das Selbstverständnis der meisten Rundfunkorchester, das jeweils beste Orchester der Stadt zu sein, Karriereziel für Musiker:innen wie Dirigent:innen. »Wir sind nicht mehr Karriereziel, sondern nur noch Zwischenstation. Die sehr guten Leute gehen«, meint ein Orchestermusiker. Im WDR Sinfonieorchester oder dem Symphonieorchester des BR registriert man argwöhnisch, dass die städtischen Kolleg:innen beim Kölner Gürzenich-Orchester oder dem Bayerischen Staatsorchester mehr verdienen als man selbst, auch wenn letztere mehr Konzerte spielen. »Dadurch, dass das Orchester bei jeder neuen Tarifverhandlung etwas abgeben musste und die Musiker:innen jetzt beispielsweise Musikvermittlung oder Kammermusik ohne separate Vergütung im Dienst machen, ist Vertrauen gegenüber der Institution bezüglich der Wertschätzung ihrer Arbeit verloren gegangen«, meint Orchestermanager Bütow.  

Gleichzeitig sind sich viele in den Orchestern bewusst, dass die eigene Existenzberechtigung zunächst einmal nicht in der Öffentlichkeit, sondern gegenüber dem eigenen Sender verteidigt werden muss. »Wir müssen in Zukunft crossmedialer arbeiten und mehr mit den Sendern im Haus kooperieren, um neue Formate zu entwickeln, um eine stärkere Wahrnehmung im Haus herzustellen«, sagt ein Orchestermanager. »Es braucht einen Kulturwandel«, meint Oliver Wenhold, Cellist im WDR Funkhausorchester. »Es liegt an uns, noch mehr Interesse zu zeigen an dem, was im Haus passiert und uns einzubringen.«

Dass die Frage nach den heutigen Aufgaben der Rundfunkorchester gar nicht so einfach zu beantworten ist, liegt auch daran, dass sich ihr ursprünglicher Auftrag über die Jahrzehnte hinweg teilweise pulverisiert hat. In der Nachkriegszeit, in der viele von ihnen gegründet wurden, sollten sie Inhalte für die Radioprogramme der Sender einspielen, Repertoire entdecken, neue Musik aufführen und etablieren. Diesen Auftrag haben die deutschen Rundfunkorchester erfüllt. Sie bestückten systematisch die Archive, insbesondere mit Aufnahmen von in der NS-Zeit verbotenem Repertoire. Ähnlich wie das öffentlich-rechtliche Radio wurden auch die Rundfunkorchester in den fünfziger und sechziger Jahren Heimat und Ermöglicher der Avantgarde, von Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann, Mauricio Kagel, Luigi Nono oder Karlheinz Stockhausen.

Auf diesen Gründungsauftrag wird heute noch oft verwiesen. »Wir müssen die Vielfalt bewahren und Musik produzieren, die kein Mensch kennt und jenseits des Mainstreams ist«, erzählt David Drop, Geiger und Orchestervorstand des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. »Will man die Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik, braucht es Rundfunkorchester«, sagte der Dirigent Marek Janowski kürzlich in einem Interview. Der Rundfunk genieße das Privileg, »aufgrund seiner Gebührenfinanzierung eben nicht zwanghaft auf die Quote schielen zu müssen, sondern im Rahmen der Musikproduktion mit eigenen Klangkörpern gerade auch das randständige, zeitgenössische oder vergessene Repertoire zu berücksichtigen und zu fördern«, schreibt DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens. Die Öffentlich-Rechtlichen als Bewahrer der Vielfalt, während die privaten Anbieter nur Markt und Quote bedienen – diesem Argument begegnet man in Gesprächen über die Rundfunkorchester immer wieder. Es erinnert an die tribale Logik des von der ARD in Auftrag gegebenen »Framing-Manuals«, in dem die öffentlich-rechtlichen »Gemeinwohlmedien« den »medienkapitalistischen Heuschrecken« gegenübergestellt wurden. Im Kontext der deutschen Orchesterlandschaft sind diese »Frames« nicht nur fragwürdig, sondern laufen gänzlich ins Leere: Die meisten Berufsorchester in Deutschland sind eben nicht privat sondern öffentlich finanziert und können – oder sollten – unabhängig vom Diktat des Marktes agieren. Die Gleichung »privat = marktkonform/profitorientiert« passt auch deshalb nicht, weil in Deutschland gerade die freien Ensembles häufig Innovationsträger sind und oft prekär finanziert.

Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)
Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)

Bei einem genauen Blick auf die Konzertprogramme lässt sich die Behauptung einer programmatischen Unterscheidbarkeit zwischen den 12 Rundfunkorchestern und den 110 öffentlich finanzierten Sinfonieorchestern kaum halten. Neue Musik findet bei den Rundfunkorchestern eher isoliert in den Neue-Musik-Reihen statt, die in der Außenkommunikation der Orchester und den Rundfunkprogrammen der Sender zuweilen verschämt versteckt werden: zu elitär, zu wenig »durchhörbar«. Gleichzeitig lassen sich auch Rundfunkorchester für kommerziell lukrative Projekte mit zweifelhaftem musikalischen Wert einspannen. Die primäre Aufgabe der Rundfunkorchester sei es, das zu spielen, was die anderen Orchester nicht spielen, sagte der mittlerweile verstorbene Dirigent Michael Gielen 2013 im Rahmen der Diskussionen um die Fusion der beiden SWR-Orchester Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg. »Aber immer mehr sind sie unter dem Druck der Funktionäre und Intendanten zu ganz normalen, halbkommerziellen Symphonieorchestern geworden. Sie kümmern sich darum, den erfolgreichsten Kapellmeister zu engagieren, aber sie kümmern sich nicht mehr um die Uraufführungen.« Dass die ARD-Klangkörper sich von »früher typischen Produktionsorchestern« zu »wettbewerbsbereiten Konzertorchestern« entwickelt haben, wie der ehemalige Intendant des NDR Jobst Plog schon 1993 schrieb, liegt auch daran, dass sie mit ihren Produktionen in den Radioprogrammen immer seltener Platz fanden. Die Konzertorchester erleben die öffentlich-rechtliche Konkurrenz bisweilen eher als Wettbewerbsverzerrung. Als Teodor Currentzis 2018 seinen Posten als Chefdirigent beim neu fusionierten SWR Symphonieorchester antrat, wurde dies vom Sender auf allen Kanälen über Monate hinweg begleitet. »Das ist schon schwierig, wenn der Rundfunk seine Kanäle dafür benutzt, das eigene Orchester zu positionieren, und wir dann leer ausgehen«, sagt der Intendant eines städtisch finanzierten Orchesters im SWR-Sendegebiet gegenüber VAN.

Durch den Rollenwandel vom Produktions- zum Konzertorchester haben sich die Rundfunkorchester gleichzeitig auch in einem Netz von Zielkonflikten verfangen, die durch die aktuellen Debatten immer stärker zutage treten: Auf der einen Seite will man im globalen Wettbewerb der Klangkörper mitspielen, konkurriert um das Engagement von Stars, macht internationale Tourneen und Gastspiele. Gleichzeitig lauten Auftrag und Ziele der Sendeanstalten, sich angesichts des Legitimations- und Spardrucks immer mehr auf niederschwellige Angebote im Sendegebiet zu fokussieren, um neue Hörer:innen und neue Akzeptanz zu gewinnen. Die Orchester sind aufgefordert, ihren Auftrag in Hinblick auf diese Ziele neu zu definieren. »Wir wollen mit unseren Angeboten so viele Interessierte wie möglich erreichen«, sagt Christoph Stahl, der für die Klangkörper zuständige Hauptabteilungsleiter im WDR gegenüber VAN. »Dieser Fokus hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr herausgebildet, insofern wirkt sich die Legitimationsdebatte auch auf uns aus. Arbeiten im sogenannten Elfenbeinturm ist  – und das zu Recht – nicht möglich.« Auf einem Workshop der WDR-Klangkörper im Dezember 2017, deren Dokumentation VAN vorliegt, lauteten dementsprechend die Fragen: »Wofür brauchen die Menschen in NRW die WDR-Klangkörper?«, »Welche Angebote müssen wir Klangkörper machen, damit die Menschen in NRW positiv über uns sprechen?«, »Mit welchen Angeboten gewinnen die WDR-Klangkörper neue Zielgruppen in NRW?« »Was können die WDR-Klangkörper dazu beitragen, damit alle Menschen in NRW gern ihre Rundfunkbeiträge zahlen?«

Das »Sendegebiet« steht dabei für einen Interessenkonflikt zwischen Orchestermusiker:innen und Rundfunkanstalt. »In der ganzen Welt gefragt, aber in NRW zuhause«, schreibt WDR-Intendant Tom Buhrow im Vorwort der Saisonbroschüre 2019/20 des WDR Sinfonieorchesters unter dem Motto »Absolut Spitzenklassik«. Nur dass diesen Spagat nicht alle mitmachen wollen. Die Rundfunkorchester wurden lange auf Exzellenz getrimmt. Ihre Musiker:innen wollen sich international messen, mit den besten Dirigent:innen und den großen symphonischen Schlachtrössern. »Ich bin in das Orchester gegangen, um Bruckner in der Philharmonie zu spielen«, sagt ein Orchestermusiker gegenüber VAN. Da kratzt es am Selbstverständnis, wenn Musikvermittlungsangebote in der Provinz gemacht werden müssen. »Manche Musiker:innen empfinden es als einen Statusverlust, wenn sie vermehrt ›Happy Hour-Konzerte‹ oder ›Das Konzert mit der Maus‹ spielen sollen«, sagt Orchestermanager Bütow. Beim Symphonieorchester des BR definiert man sich in erster Linie als Leuchtturm, als eines der besten Orchester Deutschlands. Gerade wurde Simon Rattle als neuer Chefdirigent ab der Saison 2023/24 verkündet, der eigene Konzertsaal soll bald folgen. »Wir sind sehr stolz auf die Leistungen unseres Symphonieorchesters, das weltweit höchste Anerkennung genießt«, antwortet Reinhard Scolik, der als Programmdirektor Kultur im BR für die Klangkörper zuständig ist, auf die Frage nach dem Auftrag des Symphonieorchesters. »Nun freuen wir uns sehr auf Sir Simon Rattle, wir schätzen seine Vielseitigkeit, seine Innovationsfreude und seine gesellschaftliche Aufgeschlossenheit. Außerdem ist es uns ein Herzensanliegen, gemeinsam auf dem musikalischen Vermächtnis unseres verstorbenen Chefdirigenten Mariss Jansons aufzubauen und sein Lebensprojekt, das neue Konzerthaus München, zu realisieren und mit Leben zu füllen.« Ob Rattle lieber im »Sendegebiet« unterwegs sei als Jansons? Der habe mehr Konzerte auf Tournee als in Bayern gespielt, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter der BR-Hörfunkdirektion: »Das Sendegebiet ist wenig attraktiv. Das vorherrschende Gefühl ist: ›Wir gehören zur Weltspitze, also dürfen wir nur in den größten Sälen der Welt spielen.‹«

Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)
Foto Petrus3743 (CC BY-SA 4.0)

In Probespielen wird auch bei Rundfunkorchestern nicht die Bereitschaft abgefragt, sich an Musikvermittlungsformaten zu beteiligen. »Wenn du ein Instrument lernst, wirst du darauf getrimmt, Exzellenz zu bieten und gegen die erdrückende Konkurrenz anzuspielen«, erzählt ein Musiker. »Dann kommst du irgendwann in ein Orchester und willst mit tollen Dirigenten spielen, dir aber nicht Gedanken über die 90 Prozent der Bevölkerung machen, die dein Kulturangebot gar nicht wahrnehmen.« Ein Musikvermittler einer Rundfunkanstalt berichtet von einem im Sender angestellten Pianisten, der sich weigerte, ein Schulkonzert in der Provinz zu spielen, weil in der dortigen Schule nur ein Digitalpiano zur Verfügung stand. Um ein Schulkonzert im letzten Winkel des Sendegebiets zu spielen, müsse man auch mal früh aufstehen, erzählt Ekkehard Vogler, Musikvermittler beim MDR. »Man muss aus der Komfortzone raus. Die Schulen fangen nicht wegen mir später an.« Aber: »Man muss den Anspruch auf Exzellenz nicht aufgeben. Uns bricht kein Zacken aus der Krone, wenn wir in Hintertupfingen ein Schülerkonzert machen.« Sein Kollege Oliver Wenhold vom WDR Funkhausorchester ergänzt: »Wir können nicht stur festhalten am Berufsbild, nur Mahler in der Philharmonie spielen zu wollen.«

Dass der aus dem Blick geratene und teilweise abhanden gekommene Auftrag die Rundfunkorchester unter Rechtfertigungsdruck setzt, ist nicht neu. Es sei nicht Aufgabe des Bayerischen Rundfunks »einen zunehmend als unabhängiges Konzertorchester fungierenden Klangkörper aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkgebühren zu finanzieren«, hieß es 2009 einem Gutachten des Bayerischen Obersten Rechnungshofes. In einem Positionspapier, das VAN vorliegt, schreibt die European Broadcast Union 2019, »dass dann, wenn die Rundfunkorchester zu sehr unabhängigen Orchestern ähneln, eine Auslagerung oder Schließung in Gebieten droht, die bereits über ein ausreichendes Orchesterangebot verfügen«.

»Wir müssen uns von den Konzertorchestern unterscheidbarer machen«, meint auch Cellist Oliver Wenhold vom Funkhausorchester des WDR, in dessen Sendegebiet wahrscheinlich die weltweit höchste Orchesterdichte anzutreffen ist. Sein Orchester hat diesen Prozess bereits hinter sich. Es setzt auf Breite, einen klaren Sendegebiets- und Unterhaltungsbezug, genreübergreifende Projekte, sieht sich als Dienstleister für den Funk, setzt auf Trimedialität. Innerhalb der ARD gilt es damit – neben dem »Exzellenz-Leuchtturm« BR Symphonieorchester – als das Orchester mit dem klarsten Alleinstellungsmerkmal.

Andere Rundfunkorchester haben es da nicht so einfach. Insbesondere im Hinblick auf Digitalisierung und Musikvermittlung haben sie es verschlafen, ihre Vorteile als Teil einer Medienanstalt und die damit einhergehende Infrastruktur rechtzeitig zu nutzen. Dass Digitalisierung für Orchester lange Zeit bedeutete, das Analoge einfach zu verlängern und Konzerte mehr schlecht als recht abzufilmen, gilt nicht nur für Rundfunkorchester. Aber selbst beim Thema Livestreaming waren sie nicht Vorreiter, sondern haben sich den Rang ablaufen lassen. Als der WDR vor vier Jahren die ersten Livestreams mit dem Sinfonieorchester produzierte, hagelte es Kritik aus dem Klangkörper. »Die waren erst so schlecht, dass sie den Ruf des Orchesters beschädigt haben«, so ein Orchestermusiker. »Das war handwerklich dilettantisch, die Schnitte stimmten nicht«, erinnert sich ein Redakteur. Nachdem Orchestermitglieder auf die Barrikaden gingen, werden nun weniger Streams pro Jahr gemacht, die dafür aber eine bessere Qualität haben. Dabei wären Rundfunkorchester eigentlich prädestiniert dafür, Formate für eine genuin ästhetische Erfahrung im Digitalen zu entwickeln, nach denen alle suchen. Digitale Ausspielwege zu finden, sei auch zentral für die Überlebens- und Bestandsgarantie der Klangkörper, meint Anke Mai, Programmdirektorin Kultur beim SWR, gegenüber VAN. »Die Menschen nur live und vor Ort anzusprechen, wäre mir zu wenig und eine zu exklusive Auslegung des Auftrags.«

Auch im Bereich der Musikvermittlung hätten Rundfunkorchester die Möglichkeit, in die Breite zu gehen, Bildungsangebote in den neuen Medien aufzubauen, dabei gleichzeitig über prominente Gesichter Sichtbarkeit bei vielen verschiedenen Zielgruppen zu erzeugen. Schließlich ist Vermittlung das Kerngeschäft des Rundfunks. »Es gehört zum öffentlich-rechtlichen Klangkörper, sich Gedanken über musikalische Bildungsarbeit für das gesamte Sendegebiet zu machen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal«, so MDR-Musikvermittler Vogler, der als Leiter des Jugend-Musik-Netzwerks »Clara« in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Instrumenten-Workshops, Schulkonzerte und Familientage veranstaltet. Die Rundfunkorchester hätten relativ früh angefangen, Mittel für Musikvermittlung freizustellen und eigene Education-Abteilungen zu gründen, sagt Lydia Grün, Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold. »Einige haben sich weiterentwickelt, beispielsweise mit dem Anker im ländlichen Raum und flächendeckenden Schulprogrammen im Sendegebiet. Aber die Personalausstattung fast aller Education-Abteilungen in Rundfunkorchestern liegt im bundesweiten Vergleich mittlerweile auf einem mittleren bis niedrigen Niveau. Oft arbeitet sich da eine Kollegin höchstens unterstützt mit Teilzeit-Kräften mit relativ wenig Unterstützung aus den Redaktionen an den Strukturen ab. Und es fehlt an einer wirklich schlagkräftigen Unterstützung durch die Redaktionen.« Eine Vorreiterrolle in der Musikvermittlung, gerade auch im Vergleich zu den Konzertorchestern, nähmen die Rundfunkorchester nicht mehr ein, so Grün. Die ARD-Klangkörper blieben quantitativ wie qualitativ unter ihren Möglichkeiten.

Wie könnte der neue Auftrag der Rundfunkorchester aussehen? Brauchen sie überhaupt einen? Der WDR hat für seine Klangkörper strategische »Leitplanken« definiert: Internationalität durch Exzellenz, Regionalität durch Nahbarkeit, nationale Wahrnehmung durch innovative Projekte, Digitalisierung. Das deckt sich auch mit den Vorstellungen in anderen Sendeanstalten: mehr Sendegebiet, mehr Musikvermittlung, mehr Zusammenarbeit mit den Programmen, mehr Digitalisierung. Innerhalb des WDR kann man diese Bereiche noch arbeitsteilig entweder dem Funkhaus- oder dem Sinfonieorchester zuordnen. Dort die Basis, da die Elite. Aber wie soll das funktionieren, wenn – wie bei den meisten Anstalten – nur noch ein Sinfonieorchester zur Verfügung steht? Wo sind die Musiker:innen als eierlegende Wollmilchsau, die das alles nicht nur murrend mittragen, sondern auch mitgestalten? Und wo bleibt da die Musik – die Weiterentwicklung des Repertoires, das Zeitgenössische? »Wir haben beim SWR eine Tradition im Bereich der neuen Musik«, meint Programmdirektorin Mai. »Wir stehen in der Verantwortung, die zu pflegen. Aber auf der anderen Seite können wir nicht sagen: ›Wir erfüllen für einen elitären Bereich diesen Auftrag.‹ Wir können uns nur erlauben, das zu tun, indem wir auch niederschwellige Projekte machen, die massentauglich sind.«

Ist das noch ein Spagat, oder schon eine Zerreißprobe? Von der »Quadratur des Kreises« sprechen viele, allerdings bisher kaum öffentlich. Zu groß ist die Sorge, mit jeder Selbstkritik Wasser auf die Mühlen derjenigen zu gießen, die insgeheim Kahlschlagphantasien hegen. Dass die Nerven innerhalb der Anstalten blank liegen, zeigte sich auch im Rahmen dieser Recherche. Ein Orchestermusiker wurde von seinem Abteilungsleiter zur Rede gestellt, nachdem bekannt geworden war, dass er mit VAN gesprochen hatte. Andere zogen auf Druck im Sender ihre Zitate zurück oder wollten nur noch anonym genannt werden. Nachdem ein Musiker seine Zitate VAN gegenüber bereits freigegeben hatte, schrieb die Presseabteilung, dass sie diese »nicht als Basis für eine aktuelle Publikation« sehe. Die Diskussion aber immer erst als Abwehrschlacht zu führen, wenn es schon zu spät ist, hält auch Nikolaus Pont vom BR Symphonieorchester für falsch. »Ich finde, dass über die Frage unseres Auftrags öffentlich mehr und nicht nur defensiv gesprochen werden sollte.« Die Fusion der beiden SWR-Orchester ist dabei für viele warnendes Beispiel dafür, dass es nicht ausreicht, sich auf historische Verdienste zu berufen. »Ich glaube, dass wir gut daran tun, im Moment klar zu machen, warum wir nützlich und wichtig sind für den Sender. Wenn man glaubt, dass man als Klangkörper schon per se was ist, und gut und sicher, ist man nicht gut beraten. Das ist die Lehre aus dem SWR-Debakel«, meint ein Orchestermanager, der anonym bleiben möchte. Ein anderer erzählt, wie aus der Hörfunkdirektion die Ansage kam, sich so aufzustellen, dass es »im Falle eine Abschaffung Volksaufstände gäbe«. Die haben allerdings auch den SWR-Orchestern nichts genutzt, wobei die Ironie der Geschichte ist, dass gerade das wegfusionierte ehemalige SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit seiner Kernkompetenz in zeitgenössischer Musik und seiner Jugendarbeit ein klares Alleinstellungsmerkmal hatte, das darüber hinaus genau dem ursprünglichen Auftrag eines Rundfunkorchesters entsprach. »Auf der Welt dürfte es kein zweites Orchester geben, dessen Musiker sich so vorbehaltlos und selbstverständlich, auf so hohem spieltechnischen Niveau und mit ebenso großer Neugierde wie Leidenschaft für die Musik der Gegenwart einsetzen«, hieß es 2013 in einem Offenen Brief, mit dem 160 Dirigent:innen gegen die Fusion des Orchesters protestierten.

Dass die Fusion im SWR die letzte Umwälzung bleibt, das bezweifeln viele, auch angesichts der Tatsache, dass das Geld dauerhaft knapp bleiben wird. »Ich sehe nicht, dass die Rundfunkgebühren so steigen wie es früher der Fall war«, sagt ein ehemaliger Hörfunkdirektor. »Das ist politisch nicht mehr durchsetzbar.« Die Kritik an den vielen teuren Kanälen und Plattformen, die sich teilweise programmatisch überlappen, werde auch auf die Klangkörper überschwappen, so ein Musiker. Schon kursieren viele Phantasien, Vorschläge, Gerüchte. »Man könnte sagen: Statt eigenem Orchester übernimmt jeder Rundfunk in seinem Sendegebiet eine öffentlich rechtliche Partnerschaft für die existierenden guten Orchester«, meint ein ehemaliger Hörfunkdirektor. Die immer noch vergleichsweise großen Etats für Kompositionsaufträge oder Aufnahmeprojekte könnten dann umgelegt werden. Ein Orchestermanager sieht die zunehmende Clusterbildung der ARD-Anstalten, bei der zum Beispiel das Kulturangebot in Zukunft beim MDR zentralisiert wird, auch auf die Orchester zukommen: »Die Diskussion, ob innerhalb der ARD wirklich jede Rundfunkanstalt alles machen muss, wird bald auch die Klangkörper einschließen.« Vielleicht deutet in diese Richtung auch schon die Aussage von RBB-Intendantin Patricia Schlesinger, dass zwar außer Frage stünde, dass der Rundfunk als Kulturinstitution Klangkörper brauche, »aber man darüber reden kann, wie sie angebunden und finanziert werden«.

Eine Recherche zu Legitimation, Auftrag und Zukunft der Rundfunkorchester in @vanmusik.

Müssen sich Rundfunkorchester überhaupt auf eine legitimatorische Diskussion über ihren »Mehrwert« einlassen, auf Argumente von Auftrag, Sinn und Zweck? Ist das nicht kulturloses »Funktionärsdenken«, weil Orchester einen Wert an sich haben? »Ich finde es bedauerlich, dass in der öffentlichen Debatte überhaupt nicht darüber gesprochen wird, was die grandiosen Klangkörper der Rundfunkanstalten eigentlich für Schätze sind«, meint David Drop vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Orchester seien über Jahrzehnte gewachsene, fragile Gebilde. »Man kann nicht einfach zwei Orchester zusammenlegen und glauben, man hat dann ein exzellentes Orchester. Fusionierung heißt erstmal Zerstörung, ein Raubbau an der Kultur in Deutschland. Man zerstört Historie und Zukunft.« Ob sich dieses Argument durchsetzen wird, daran hat MDR-Musikvermittler Ekkehard Vogler seine Zweifel. »Ich spüre den Druck, weil ich sehr viel beim Beitragszahler unterwegs bin. Wenn ich mit dem Transporter an den blauen Bannern vorbeifahre, kriegt das eine ganz andere Dimension. Der Druck da draußen ist immens.« ¶